Mauern

5.7.2011, 00:00 Uhr
Mauern

© Draminski

Sie war plötzlich da. Einfach so. Zack und da!

Das ist ungewöhnlich für eine Mauer, dachte er. Normalerweise werden Mauern gemauert. Stein auf Stein. Von der Sohle bis zur Krone. Bis irgendwann die Mauer fertig ist. Und die ist dann geplant gewesen und steht nicht so überraschend in der Gegend herum wie diese graue, leicht porös verputzte Einheitsmauer aus irgendeinem Do-it-yourself-Katalog für Arme.

Er ging seine Wohnstraße entlang, auf der sie quer stand und keinen Durchgangsverkehr mehr zuließ, und näherte sich ihr mit irritierter Neugier. Ein paar Wörter waren bei genauerem Hinsehen auf ihr auszumachen — wie Schatten.

„Mauer“, las er, die Augen zusammenkneifend. „Länge: vierundzwanzig Meter achtzig; Dicke: achtunddreißig Zentimeter, ohne Putz; Höhe: zwei Meter vier.“ Mehr stand da nicht. Das, fand er, war ziemlich dürftig. Ein wenig mehr Information hätte er sich schon gewünscht. Irgendwas zu einem möglichen Sinn. Sollte die Mauer etwas voneinander trennen? Nachbarn, die sich nicht verstanden? Sollte sie die normalerweise zu Boden gerichteten Blicke der zur Arbeit hetzenden Anwohner heben und Richtung Himmel zwingen, um den Horizont zu erweitern?

Sein Handy klingelte. Sein Freund Karl war dran. Er klang verwirrt. In seiner Straße stünde plötzlich eine Mauer, quer, grau, mehr als mannshoch, und würde die Häuserzeilen nun voneinander trennen. Einfach so. Das sei, schrie der Freund, völlig irre! Jaja, beruhigte er ihn und beendete das Gespräch abrupt. Er fühlte sich noch zu unvorbereitet, um irgendeine Stellung zu beziehen.

Wirklich, dachte er, wenn Mauern jetzt schon nicht mehr gemauert werden mussten und einfach so auftauchten, dann sollten sie wenigstens etwas Schick in den tristen Alltag bringen. Irgendein Farbmuster, vielleicht ein paar Landschaftsmotive — Wälder, Wiesen und so. Nicht einmal gegen irgendwelche ihm meist völlig unverständliche Graffiti hätte er etwas gehabt. So etwas trugen viele andere Mauern ja auch. Besonders die tristen. Aber nein, diese hier stand einfach nur da. Grau, quer.

Er glitt vorsichtig mit den Fingerkuppen an ihr entlang. Rau. Spröde. Unangenehm. Eine Mauer eben. Sie hatte nichts Sympathisches. Wem hätte sie willkommen sein sollen? Sind Mauern überhaupt jemandem willkommen? Allenfalls die jugendlichen Stadtkletterer fielen ihm ein, die neuerdings quer durch die Metropolen hüpften. Parcours nannte sich dieser neue urbane Blödsinn. War seine Mauer ein Hindernis eines solchen Parcours? Gab es hier demnächst vielleicht eine Weltmeisterschaft im Parcoursrennen? Denkbar wäre es, dachte er. Letztens hatte es im nahegelegenen Freibad sogar eine Arschbombenweltmeisterschaft gegeben. Denkbar war mittlerweile vieles.

Mit etwas zögerlichem Anlauf versuchte er sich an der Mauer hochzuschwingen. Er schaffte es gerade so hoch, dass er für eine kurze Weile hinüberschauen konnte. Entlang der Straße waren lauter Mauern. Eine nach der anderen. Alle quer zur Verkehrsrichtung. Er ließ sich zurückfallen. Wenn die überall waren, war es mit dem Autofahren vorbei, stellte er fest und fragte sich, ob das eventuell Klimaschutzmauern waren. Aber, wer hätte sich so etwas ausgedacht? Greenpeace? Quatsch, dachte er.

Mit einem neuen, nun entschiedenen Anlauf sprang er seine Mauer an, kletterte hoch, und ließ sich auf der anderen Seite wieder herab. Plump zwar, sicher nicht parcoursreif, aber immerhin! Von der nächsten Mauer kamen ihm zwei Männer auf die gleiche Weise entgegen. Fragend starrten sie sich an. Er lief zu dieser nächsten Mauer, auf der, schattengleich, einige Wörter zu lesen waren. „Mauer“, stand da. „Länge: vierundzwanzig Meter achtzig; Dicke: achtunddreißig Zentimeter, ohne Putz; Höhe: zwei Meter vier.“ Mehr stand auch an dieser Mauer nicht. Naja, dachte er, eine wirkliche Botschaft wäre wohl auch zu viel erwartet gewesen. Nüchtern betrachtet, kannte er eigentlich keine Mauer, die etwas mitzuteilen gehabt hätte. Mauern waren in der Regel einfach da. Ihre Botschaft war das Dasein. Meist als eine Art Grenzbefestigung. Sonst nichts.

Er kletterte zurück, lief nach Hause und schaltete den Fernseher ein. Einen Nachrichtensender. Die Bilder waren erschreckend. Luftaufnahmen aus dem ganzen Land zeigten Mauern über Mauern. Zwischen ihnen steckten Autos fest und Menschen. Das Land war eingemauert. Wie wenn ein verrückter Weltarchitekt einen Stillstand hatte erzwingen wollen. Nichts ging mehr voran oder zurück. Es war ein gigantisches Innehalten. Ein Atemstillstand.

Würde es ein Atemholen werden? Was würde man sich einfallen lassen? Brücken? Unzählige Brücken? Oder würde man sich an den Abriss der Mauern machen? Einige Menschen hatten immerhin schon begonnen, sich mit Hammer und Meißel Stücke herauszuhauen. Vielleicht bekamen sie einmal historischen Wert. Wer weiß? Er jedenfalls würde seine vier Wände erst einmal nicht verlassen. Wozu? Man konnte ja nirgends hin. Eine gute Gelegenheit war das, fand er, einmal in aller Ruhe nachzudenken.

Das Telefon klingelte. Auf dem Display erkannte er, dass es sein Freund Karl war. Er nahm nicht ab. Er war noch lange, lange viel zu unvorbereitet, um irgendeine Stellung zu beziehen.

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