Mondlose Nacht

1.7.2014, 11:00 Uhr
Auf du und du mit dem Mann im Mond: Ewald Arenz.

© Thomas Scherer Auf du und du mit dem Mann im Mond: Ewald Arenz.

Es war eine dieser hellen Juninächte, die bei jungen Menschen selbst in Bayern und selbst am Wochenende, wenn eigentlich jeder damit beschäftigt ist, in möglichst kurzer Zeit und möglichst effektiv Volltrunkenheit herzustellen, romantische Gefühle hervorrufen.

Annette Klarbach, zwanzig Jahre alt und im Allgemeinem dem Bier nicht abgeneigt, hatte an diesem Abend aus verschiedenen Gründen keinen Tropfen getrunken, um ihre Pläne bezüglich des nur um wenige Jahre älteren Staatsschauspielers Mario, den sie seit Jahren verehrte, nun gezielt in die Tat umzusetzen. Es hatte alles hervorragend funktioniert. Grillparty bei Bekannten, die mit Mario eng, mit Annette erst seit Bekanntwerden der Gästeliste auch eng befreundet waren. Unauffälliges Beieinanderstehen im Garten. Höchst zuvorkommend Zigaretten in der Handtasche habend, wenn der Staatsschauspieler rauchen wollte. Kluge Gespräche über alle Stücke der vergangenen drei Jahre, in denen Mario gespielt hatte.

Mario hatte nie eine Chance. Er schmolz dahin wie ein Stück Butter in der Sonne. Als der Vollmond dann hoch am Himmel stand, hatte Annette, die wie zufällig nichts getrunken hatte, Mario bereits angeboten, ihn nach Hause zu fahren. Die Fahrt hatte auf einem recht idyllischen Parkplatz hoch über der Stadt geendet. „Wohne ich hier?“ fragte Mario mit schwerer Zunge. Er war zwischendurch eingenickt und jetzt hochgeschreckt. Annette hatte jedoch nicht vor, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Der Parkplatz war mit großer Präzision ausgesucht worden. Direkt, nachdem Annette die Einladung zur Grillparty aus dem Briefkasten gefischt hatte. Es handelte sich um einen Touristenparkplatz, der nachts vollkommen verlassen und dabei angenehm stockdunkel war, andererseits jedoch einen atemberaubenden Blick über die Altstadt bot.

Wer den Othello so spielen konnte wie Mario, musste bei dem Panorama der Stadt und Annettes Dekolleté für immer verloren sein. Mario, der trotz seines Berufs noch nicht alle guten Umgangsformen verloren hatte, beugte sich pflichtbewusst vor, um Annette zu küssen. Die jedoch hatte bei all ihrer Planung zwei Dinge nicht bedacht: Die Mondphase und die warme Juninacht.

Der Vollmond war so hell, dass nichts, was über den Austausch zarter Küsse in dem extragroßen Auto, das sich Annette mit Vorbedacht von einem Freund geliehen hatte, hinausging, möglich war, ohne begeisterte Pfiffe von den Nachtschwärmern zu hören. Es war zu hell. Sie saßen . . . na ja, lagen . . . wie auf dem Präsentierteller. Mario sah sich bereits etwas nervös um – schließlich kannte so ziemlich jeder sein Gesicht, und er würde auf keinen Fall auf einem Parkplatz bei einem tête à tête – und sei es noch so romantisch – gesehen werden wollen. Annette sah ihre Felle davonschwimmen.

„Verdammter Mond!“, fluchte sie aus vollem Herzen wie eine Million von Liebespaaren und Diebsgesellen in all den Jahrhunderten vor ihr. Warum Gott also gerade ihren Wunsch erhörte, wird für immer ein Rätsel bleiben, aber es wurde mit einem Schlag dunkel, und ein Schwanken ging durch die Erde, die das Auto zittern ließ. Annette allerdings gab nichts darauf und dachte: „Gott sei Dank!“ und ließ – nunmehr ungesehen – wie zufällig zwei Knöpfe an ihrem Oberteil aufspringen.

Als die ersten Anrufe bei der Polizei einliefen, dachte der wachhabende Beamte zunächst mürrisch an eine dieser blöden Internet-Ulkaktionen, ging aber nach dem vierten Mal doch ans Fenster. Tatsächlich. Der Mond war weg. Nicht etwa hinter einer Wolke verschwunden oder untergegangen, sondern weg.

Die Sterne schienen hell. Am Horizont wurde es bereits rosa. Aber der Mond hatte sich verabschiedet. Das, dachte der Polizist, und es wurde ihm heiß und kalt, ist aber blöd. Er wusste nicht genau, ob er dafür verantwortlich gemacht werden konnte, aber was er wusste, war, dass solche Dinge immer dann geschahen, wenn er Nachtdienst hatte. Also löschte er heimlich, still und leise alle Mondanrufe und tat am nächsten Morgen so, als sei nichts geschehen.

Es war aber etwas geschehen. Die Sonne ging zwar auf, und es entwickelte sich ein strahlender Junitag, aber irgendetwas war faul. Viele Leute hatten ein komisches Gefühl, von dem sie nicht sagen konnten, woher es kam. Die Hamburger allerdings merkten es zuerst. Die Elbe schwappte nämlich so vor sich hin und machte keinerlei Anstalten, so etwas wie eine Flut zu entwickeln. Die Nordsee, die eigentlich ein long-term-agreement mit dem Mond gehabt hatte, das auf einmal sehr einseitig gekündigt worden war, sah jetzt keinerlei Veranlassung mehr, das Watt zu fluten.

Am Abend dieses Tages hatte sich die Fläche Schleswig-Holsteins um 9000 Quadratkilometer vergrößert, und die Preise auf Sylt fielen ins Bodenlose, weil es sich bei Sylt jetzt nicht mehr um eine exklusive Insel, sondern nurmehr um einen von mehreren pittoresken Hügeln in der neuen norddeutschen Tiefebene handelte. Zehn Milliarden äußerst verdutzte Wattwürmer begannen nach sechs Stunden sehr nervös auf die Uhr zu sehen, und nach weiteren sechs begannen sie zu ahnen, was Apokalypse bedeutet.

Der bayerische Umweltminister war nicht weniger frohgemut. Zwar hatte die immer etwas übervorsichtige Kanzlerin zur Krisensitzung geladen, doch der Minister verbreitete Optimismus: „Der Mond wurde sowieso überschätzt!“ rief er den Kollegen von der CDU zu, „im übertragenen Sinn ist ja der Mond sozusagen die Opposition der Sonne, und ohne Opposition – wer wüsste das besser als wir Bayern – lässt es sich einfach besser regieren. Von jetzt ab sind wir in Deutschland eben ein Sonnenstaat! Es gibt wirklich Schlimmeres, denn“, verschmitzt beugte er sich vor und zwinkerte verschwörerisch, „denken Sie doch mal an all die Terrorstaaten, die den Mond in der Flagge haben – wie die jetzt dastehen!“

Insgesamt jedoch begann sich weltweit und ungewöhnlich langsam, aber dann mit umso größerer Wucht, eine hysterische Panik zu entwickeln.

Esoterikmessen wurden abgesagt. Unter Friseuren, die sich auf Mondphasenschnitte spezialisiert hatten, kam es verstärkt zu Selbstmorden. Dem deutschen Raumfahrtprogramm wurden die Mittel um fünfzig Prozent gekürzt und der neugegründeten Gesellschaft zur Rettung des Wattwurms überwiesen. Deutschlehrer fragten sich verzweifelt, wie sie den zukünftigen Kindern der Sonnengeneration die neunzig Prozent deutschen Liedguts vermitteln sollten, in dem es um den Mond ging.

Alle Satelliten rings um die Erde verließen, verursacht durch eine minimale Abweichung im Schwerefeld, ihre Umlaufbahn in Richtung Beteigeuze im Sternbild Orion, und weil es kein Satellitenfernsehen mehr gab, versammelten sich die Fußballfans für das Finale der Weltmeisterschaft zum Public Listening der Radioübertragung, während über ihnen komplett orientierungslose Vogelschwärme kreisten. Es ist auch für Vögel nicht schön, wenn plötzlich ihr Navi ausfällt. Kurz – die Welt versank im Chaos. Nur die Schlafwandler und diejenigen, die sich für Werwölfe hielten, atmeten auf.

Es dauerte ein paar Jahre, bis die Welt sich an die mondlosen Nächte gewöhnt hatte. Aber der bayerische Umweltminister hatte natürlich Recht gehabt – es gab ja Millionen anderer Planeten, die auch keinen Mond hatten. Allerdings auch kein Leben, aber diesen Satz hatte er, da Wahlen bevorstanden, einfach aus der Rede gestrichen.

Obwohl die Sonne jetzt ohne Opposition regierte, war die Erde dunkler geworden. Zumindest für die dreitausendfünfhundert Wattwürmer, die sich die Zoos Europas gerecht teilten. Die deutschen Dichter besangen jetzt den Abendstern, aber im Stillen waren sie sich einig – es war einfach nicht dasselbe.

Annette Klarbach jedoch heiratete schließlich den Staatsschauspieler Mario, ohne recht zu wissen, wie es eigentlich dazu kam, denn jenseits der Bühne war er eine ungeheure Enttäuschung. Vielleicht ist dies aber insofern ein kleiner Lichtblick in all der Mondlosigkeit, dass es vielleicht doch eine göttliche Gerechtigkeit gibt und wir den Mond irgendwann wiederkriegen. Denn schließlich war es Annette Klarbach, die ihn weggewünscht hat, und da kann sie jetzt ruhig eine unglückliche Ehe führen.

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