Park & Ride

17.1.2012, 10:42 Uhr
Park & Ride

© hvd

Es war ein kalter, nasser Novembermorgen. Der Regen hatte die Straßen mit einer Wasserschicht überzogen. Die Reifen seines Wagens quetschten den feuchten Film beiseite. Im Rückspiegel aber sah er, dass sich die flache Flut nach ihm sofort wieder schloss. „Ich hinterlasse keine Spuren“, dachte er.

Zum Spaß hatte er das Navigationssystem aktiviert. Die freundliche Frauenstimme forderte ihn auf, in 300 Metern rechts abzubiegen. Er lächelte. Den Weg fuhr er wie im Schlaf nach all den Jahren, die er ihn genommen hatte — Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.

Es waren nur wenige Kilometer bis zum Park-&-Ride-Platz, von wo ihn die S-Bahn bis ins Herz der Stadt brachte. Jetzt, am letzten Tag vor der etwas frühen Pensionierung, ließ er sich Zeit auf dem vertrauten Weg zur Firma, auf dem er fast alle wichtigen Entscheidungen seines Lebens getroffen hatte. Ob es die richtigen gewesen waren? Vielleicht würde ihm in dieser nahezu automatisierten Bewegung, in der er spätestens beim Umstieg in die Bahn die Verantwortung für den Transport seiner selbst immer endgültig hatte ablegen können, eine Antwort einfallen auf die Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Am Ende solcher Fahrten hatte er oft gemeint, klarer zu sehen.

„In 100 Metern links abbiegen“, hörte er die Navigationsdame wie aus weiter Ferne sagen. Es war wie immer. Er nahm die Außenwelt kaum mehr wahr. Sein inneres Auge hatte übernommen und begonnen, andere Bilder zu betrachten. Ein blutverschmiertes Kind schrie hell und wimmernd den Auftakt einer Lebensmelodie in den Kreißsaal. War das nicht er selbst? Oder war es sein Sohn? Im selben Augenblick fuhr die Erinnerung an seinen Treueschwur wie ein Dolch in seine Eingeweide. Er hatte irgendwann vergessen, dass er immer für das Kind da sein wollte. Für was vergessen? Eine banale Frage.

Die Antworten waren wie Schatten. Flüsternd versuchte er, ihnen Gestalt zu geben. Aber es kamen nur Floskeln über seine Lippen. „Existenz sichern“, murmelte er, „vorwärts kommen“. Die Schatten verschwammen ineinander und verschwanden. Ein neues Bild tauchte auf. Eine junge Frau saß in der Küche eines Hauses. Er kannte das Haus. Es war seines gewesen. Die Frau starrte mit leerem Blick aus dem Fenster, während das Kind in der Wiege schlief. Der Umriss eines Mannes war auch wahrzunehmen, aber die Frau bemerkte ihn nicht. Diesen Schatten erkannte er sofort. Er war damals zurückgekehrt, aber seine Seele nicht. Er sah, dass die Wunden der Frau nicht verheilen würden.

„In 100 Metern rechts abbiegen“, sagte die Stimme. Er war jetzt froh, dass er das Navigationssystem eingeschaltet hatte. So weit entfernt vom Geschehen auf den Straßen war er selten gewesen. Die Scheibenwischer hatten Mühe, den Regen von der Windschutzscheibe zu bringen. Er lauschte ihrem monotonen Schwenkrhythmus. Ein weiteres Bild erschien. Er sah einen Mann in seinem Büro sitzen. Einen alten, verbrauchten Mann, der noch nicht begriffen hatte, dass er nicht wirklich freiwillig in den Vorruhestand ging. „Man muss mit der Zeit gehen!“, hatte der Mann im Laufe seines Arbeitslebens die Mitarbeiter auf immer wieder neue Leitbilder des Konzerns eingeschworen.

Wie elementar sich die Bedeutung eines solchen Satzes verändert, dachte er, wenn man die Betonung auch nur um eine Nuance verschiebt: „Man muss mit der Zeit gehen!“

Der alte Mann war gerade dabei, dem in seinen Kreisen üblichen Selbstbetrug aufzusitzen. Er würde sein Ende leugnen mit dem Beratervertrag, den ihm sein Chef angeboten hatte. Der alte Mann tat ihm leid.

Der Regen hatte nachgelassen, als er in den Parkplatz einbog. Weit hinten sah er eine Gestalt winken, die ihm wohl einen freien Platz anzeigte. Als er der freundlichen Einladung folgte, musste er schmunzeln. Der Mann war merkwürdig gekleidet. Er trug einen dunklen Frack. Seine unablässig weiter winkenden Hände steckten in weißen Handschuhen. Auf dem Kopf saß ihm, verwegen schräg, ein Zylinder. Dankbar rangierte er in die ihm angewiesene Parklücke.

Der Fußweg zur Haltestelle führte vorbei an der Rückseite einer Kfz-Werkstatt. Mitten im zerbröselten Putz der Wand ließ der Rest abgeblätterter Farbe kaum noch den Namen des Betriebes erkennen. Wen kümmert schon der Auftritt im Hinterhof? Auf einem halbhohen Zaunpfahl am Wegesrand hatte jemand eine bis zur Neige geleerte Flasche billigen Sekts abgestellt. Es war sehr still. Nur eine leise Melodie in Moll irgendeines Klassiksenders hing dumpf über dem Platz. Jemand hatte wohl versehentlich sein Autoradio angelassen.

Er stellte den Kragen seines Trenchcoats auf und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er freute sich jetzt auf die Bahnfahrt. Gleich würde er wieder warm und trocken sein und auf dem letzten Teil des Weges.

Als er am Gleis angekommen war, hatte es aufgehört zu regnen. Zwischen den Wolken zeigte sich sogar die Sonne. Sie ließ die nassen Gleise wie Leuchtbänder strahlen.

Die Bahn kam die lang gezogene Kurve entlang. Es sah aus, als würde sie die Leuchtbänder nach und nach verschlucken. „Keine Spuren“, dachte er.

Als der Triebwagen in die Station einfuhr, sah er, dass der Führerstand leer war. Das musste einer von diesen modernen Triebwagen sein, die vollautomatisch gesteuert werden, dachte er und stieg ein. Sein Waggon war fast leer. Nur ganz vorn saß ein Mann, den Blick in Fahrtrichtung seitlich aus dem Fenster gerichtet. Für einen Augenblick erinnerte ihn der Fremde an seinen verstorbenen Vater. Die Türen schlossen sich, und die Bahn fuhr an.

Auch er blickte jetzt aus dem Fenster. Es war überraschend hell nach dem Regen. Und es wurde immer heller. Er wollte die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. Es ging nicht. Er sah jetzt sehr klar.
 


 

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