Profil in der Stadt ohne Mitte

18.9.2009, 00:00 Uhr
Profil in der Stadt ohne Mitte

© Draminski

Der erste Eindruck von Fürth? «Grün und verwinkelt», sagt Jörg Sichelstiel nach kurzem Nachdenken - eine Charakterisierung, die man in dieser Kombination noch selten gehört hat und die zeigt: Der neue Chef im Dekanat geht mit unverstelltem Blick an die Kleeblattstadt heran, zumal er bisher wenig Kontakte nach Fürth hatte. Lediglich in seiner Kindheit besuchte der gebürtige Neustädter, dessen Vater Pfarrer in der 200-Seelen-Gemeinde Ezelheim war, ab und an eine Tante in der Innenstadt.

Seit fast drei Wochen nun ist Sichelstiel intensiv mit dem Fahrrad unterwegs, um sich ein Bild zu machen. Noch eine Erkenntnis hat er dabei gewonnen, die manchen alteingesessenen Fürther zunächst überraschen, dann ins Grübeln bringen dürfte: «Fürth hat keine Mitte.» Gemeint ist damit mitnichten das jüngst gescheiterte Einkaufs-Großprojekt «Neue Mitte», Sichelstiel meint das vielmehr im Wortsinn: «Es gibt die Altstadt, die Freiheit, den Südstadtpark. Das ist ein schönes Konzert mehrerer Zentren, und das finde ich sympathisch.»

Der oft eher unorthodoxe Anstrich Fürths, der sich darin widerspiegelt, dürfte Sichelstiel gelegen kommen, denn schon in seiner Zeit als Geistlicher in Gostenhof neigten er und sein Team zum Ungewöhnlichen: Gottesdienste beschäftigten sich auf Basis von Zeitungsmeldungen mit der Aktualität zwischen Eisbärenbaby und Terroristen-Begnadigung. «Sie wünschen, wir predigen» und «Predigt im Kreuzverhör» hießen andere innovative Ansätze. Zwei Jahre lang hatte Sichelstiel, höchst interessiert an der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, nach Studium, Zivildienst und Vikariat zudem eine Kirchengemeinde in Nicaragua betreut. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung zum Heilpraktiker.

Mit der Kirche Profil zu zeigen, das ist dem Neuen auch für seine künftige Tätigkeit in Fürth wichtig. An welchen Stellen und mit welchen Instrumenten genau, will Sichelstiel erst noch herausfinden. Fest steht indes schon jetzt: Zum einen wird der von seinen Vorgängern eingeschlagene Weg des regen Dialogs mit anderen Glaubensgemeinschaften fortgesetzt; zum anderen verspricht der Dekan, auf Teamarbeit zu setzen, die Ehrenamtliche einbezieht.

Auch gesellschaftspolitisch soll sich die Kirche nach Sichelstiels Empfinden einmischen, wenn es Sinn macht - etwa mit der Allianz, die man mit Gewerkschaften gegen den Sonntagsverkauf geschmiedet hat. Zum souveränen Profil der evangelischen Kirche müsse es aber auch gehören, sich bei allem Werben für die Kraft und den Trost des Glaubens an Gott stets selbst in Frage zu stellen, um glaubwürdig zu bleiben.

Die christlich-religiöse Sprache werde heutzutage von vielen als tot empfunden, ist Sichelstiel bewusst. Es sei Aufgabe der Kirche, das zu ändern, und darum bemühen müsse man sich schon bei den Kindern, die «noch offen» dafür seien. Deshalb ist die Bildungsfrage in Sichelstiels Augen auch für die Kirche «eine zentrale Zukunftsfrage».

Zunächst aber muss die Beziehung zwischen dem neuen Dekan und Fürth noch eine Belastungsprobe bestehen: Sichelstiel, seine Frau und die beiden Kinder bleiben voraussichtlich noch ein Jahr in Nürnberg wohnen, weil der schadstoffbelastete Dachstuhl des historischen Pfarrhauses von St. Michael vor dem Einzug aufwändig saniert werden muss.