Unwiderruflich oder Das beste Rezept für das Ende der Liebe

11.12.2012, 09:16 Uhr
Unwiderruflich oder Das beste Rezept für das Ende der Liebe

© hjw

Franz Schult erwachte aus einem tiefen Nachmittagsschlaf. Er hatte das Klopfen an der Zimmertür nicht gehört, doch dann bewegte sich das Türschloss. Zwei Stimmen, die sich unterhielten, der Hoteldirektor stand im Raum und ein Dekorateur: „Entschuldigung, wir wussten nicht, dass Sie da sind. Wir wollten die Vorhänge ausmessen. Zeit für etwas Neues! Aber wir kommen später.“ „Finde ich auch“, murmelte Schult, und es war nicht ganz klar, ob sich dies auf die Störung oder auf die Vorhänge bezog.

Das Fenster zur Straße stand offen. Das Klirren der Straßenbahnen, schimpfende Frauenstimmen, ein plärrendes Kind. „Anne, Anne!“, hörte er, ein türkischer Junge, vielleicht vier Jahre, wie sein Enkel.

Es wurde schon dunkel. Die Leuchtreklame auf der anderen Straßenseite, rot, sich auflösend, dann wieder erstarkend, irritierte ihn. „Eine Sütterlin-Leuchtschrift, gibt es das“, dachte er, sich aufrichtend und das linke Auge zuhaltend. Da stand, einem Menetekel ähnelnd, an der Wand: „SCHULDENBERATUNG“.

Das Wort allein wäre ja wohl noch keine Bedrohung gewesen. Ganz Berlin brauchte eine Schuldenberatung, dachte Schult. Der immer fröhliche Wowi schmiss das Geld ja geradezu zum Fenster raus. Mal fielen einzelne Buchstaben aus und erschienen wieder auf der Bildfläche, bald verschwanden Buchstabengruppen im Nichts. Zuletzt standen „SCHULD“ und „RAT“ wie Zahnstümpfe in einem schadhaften Gebiss. „Tilgung nach Maß“ las er noch: Aha, also doch, Berlin, unser deutsches Griechenland, meinen die das?

Doch auch das Wort „SCHULD“ verlor seine Strahlkraft. „S“ und dann auch „C“ fielen aus, erschienen wieder, verschwanden. Schult rieb sich die schmerzenden Augen. „SCHULD“ und „HULD“ wechselten sich ab, „RAT“ blieb konstant. Ein Kindergebet fiel ihm ein, da war von Gottes Gnad’ und Christi Huld die Rede und von der Tilgung aller Schuld. „Meinen die etwa mich?“, dachte er noch, „Ich, Franz Schult, werde getilgt durch Christi Huld. Blödsinn, ich träume. Aufgestützt in meinem Hotelbett, Zimmer 345, träume ich von Huld und Schuld.“

Doch lief da etwas wie rote Farbe, wie Blut, über die Schrift? Sein Körper war bleischwer, gerädert wie nach einem Marathonlauf, nichts dergleichen hatte er hinter sich gebracht – aber sein Hirn fühlte sich leicht an, dann wieder träg und schwer wie ein Raubtier im Dschungel vor dem entscheidenden Sprung.

„Es kommt nicht auf das Suchen an, sondern auf das Finden“, hatte er irgendwann einmal gelesen. „Auf das Gefunden werden.“ Wahrscheinlich ein theologisch anmutender Text von Martin Walser, mit einem Schuss Altmännererotik aufgehübscht. Franz Schult las viel und gern wegen seiner Arbeit als Verlagsvertreter, und er streute sein Wissen wie nebenbei in die Verkaufsgespräche mit ein. Das kam bei den meist weiblichen Gesprächspartnern gut an. „Vertreter sind wir doch alle“, monologisierte Schult, er dachte an seine Freunde, Lehrer, Ärzte, Theologen: „Verkaufen wollen wir alle, verführen, vorführen, hinführen auf den rechten Weg zum Seelen- oder Körperheil.“ Brauchbare Glieder der Gesellschaft sollten seine Schüler werden, hatten ihm Lehrerfreunde erzählt. Vielseitig verwendbar. Oder eher verwertbar als Menschenmaterial.

„Nicht verwerflicher ist mein Beruf, ich kann alles vertreten, Es kommt nicht darauf an, ob ich Unterwäsche verkaufe, Bildung oder Waffen: egal. Es kommt auf die Zeitumstände an, auf die richtige Zeit. Lass dich finden und aus dem Sumpf reißen oder pack die Gelegenheit am Schopf.“

Die Leuchtschrift war erloschen, das Kind auf der Straße plärrte nicht mehr, nebenan sang ein Zimmermädchen. Eine schöne, warme, fremdartige Stimme. Schult fühlte sich heiß überflutet: von Huld und Schuld, von Glück und Scham. Etwas Gefährliches hatte sich eingeschlichen in seine Träume, in seine Erinnerungen.

Er drehte die Worte, die er gesehen hatte. Warum brachte ihn die Stimme, die fremde, und die fremde Schrift zum Träumen und zum Weinen? Sehnsucht und Schuld, warum Schuld? Und „Huld“. Mein Gott, das war es ja! Er hatte ein Mädchen gekannt, vor sehr langer Zeit, gekannt und geliebt. Hulda.

Ein altmodischer Name. Wie oft war sie verspottet worden deswegen als Kind. „Hulda aus Fulda“. Schult dachte lange nach. Oh ja, sie war schön, aber wusste sie wirklich von ihrer Schönheit? Ihr Gesicht großflächig, sehr weiß. Sie hatte oft von Krakau erzählt. Waren dort ihre Wurzeln gewesen? Jetzt erst fiel ihm auf: Er hatte nur ganz wenig über sie erfahren. Ihre Augen waren Seen zum Versinken. Das Denkmal der ermordeten Sinti und Roma, eben erst eingeweiht, ein dunkler See der Trauer. Alles spiegelte sich darin: Bäume, Häuser, Wolken. Die Welt. Huldas Augen. Voller Trauer. Vor allem damals. Vor 32 Jahren. Huld und Schuld.

Alles war groß an ihr. Ihr Vertrauen. Ihre Wärme. Ihre Weichheit. Sie konnte lachen, lauthals, sie konnte weinen, hemmungslos, sie konnte fluchen wie ein Bierkutscher. Sie war total unglücklich. Sie war total glücklich. Ihre Stimmungen wechselte sie wie die Kleider, selbst genäht und selbst entworfen. Franz Schult war entzückt – und überfordert. Er sehnte sich nach dieser arglosen Sorglosigkeit. Hulda war herzhaft, herzlich, voller Schneid und Offenheit. Aber herzlich war sie zu allen. Fast allen. Sie konnte nicht anders. Franz Schult wurde misstrauisch. Zog sich zurück. Verkapselte sich. „Mein lieber deutscher Spießer“, nannte sie ihn, zog und zerrte an seiner sauertöpfischen Befindlichkeit, bis auch er zu lachen begann.

Doch dann wurde Hulda schwanger. Ach, wie sie sich freute, strahlte. Jeder war entzückt, wie ihr Name passte. Und Franz? „Ja, Franz heißt die Kanaille“, erinnerte sich Schult in seinem Hotelbett. „So war ich. Leider. Ich war die Kanaille.“ Ein Tiefkühlhahn war er damals, beleidigt und eifersüchtig. Mit toten Augen. Er konnte Huldas Freude nicht teilen.

„Von wem ist eigentlich das Kind?“, fragte Franz wie nebenbei beim Schuheanziehen. Sie erstarrte. „Du toter Fisch!“, schrie Hulda und schritt mit aufrechtem Gang wie eine Königin zum Aquarium. Ihre Augen ließen Franz nicht los. Wie in Trance griff Hulda in das Aquariumwasser, packte ohne hinzusehen einen prachtvollen Diskusfisch an der Schwanzflosse, es war Oscar, Franzens schillernder Liebling, und schmetterte ihn dem erstarrten Kindsvater in spe ins Gesicht.

„Da, Herr Schult! Fisch zu Fisch!“, zischte sie, drehte sich um, warf noch eine Rotweinkaraffe zu Boden. Und ging. Draußen hörte er sie noch schluchzen. Kraftlos. Dann war es still. Unfähig zu irgendeiner Bewegung stand Schult im Zimmer.

Scham.

Hulda Arglos war aus seinem Leben verschwunden. Aus der Stadt. Aus der Uni. Niemand wusste etwas von ihr. Franz Schult sah Hulda nicht wieder. Er hatte sie lange gesucht. Er hatte Annoncen aufgegeben. „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt, und es ist niemals gut zu machen,“ heißt es bei Kafka.

Unwiderruflich.

Er trauerte lange.

Irgendwann vergaß er sie.

Jetzt kehrte sie wieder. Die Scham.



 

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