Verloren in der Welt der Buchstaben

2.7.2015, 13:00 Uhr
Verloren in der Welt der Buchstaben

© F: Berny Meyer

Studien zufolge haben 14 Prozent der Deutschen Probleme, Sätze zu entziffern und zu verstehen. Auf den Landkreis heruntergebrochen wären das fast 16 000 Menschen, das ist doch unvorstellbar, oder?

Hable: Aber wohl Tatsache. Es gibt auch eine Untersuchung, derzufolge es in der Gruppe der Erwerbstätigen sogar 18 Prozent sind, die keine Buchstaben entziffern können. Der Kreis derer, die zwar lesen können, aber den Sinn nicht begreifen, reicht noch weiter. Analphabetismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Aber diese hohen Zahlen könnten auch Motivation sein, weil sie jedem Betroffenen zeigen: Du bist nicht allein. Selbst Universitäten beobachten immer mehr Studenten, die nicht richtig schreiben können. Obwohl die natürlich nicht zu dem Publikum zählen, das wir erreichen wollen.

Wen sprechen Sie an?

Hable: Wenn jemand ein Defizit empfindet, dann ist er unser Kunde. Wobei es uns freilich nicht ums fehlerfreie Schreiben geht. Beispielhaft ist für mich die Zirndorferin, die sagte: Ich will weniger Fehler machen, können Sie mir helfen? Tatsächlich konnte sie Wörter entziffern, verstand aber den Sinn nicht. Allerdings ist sie kurzfristig abgesprungen, weil sie eine Vollzeitstelle bekam und als Alleinerziehende keinen zeitlichen Spielraum mehr sah.

 

Sie war bis dato die einzige Interessentin. Ihr größtes Problem dürfte sein, die Betroffenen zu erreichen, oder?

Hable: Das ist richtig. Es ist kaum davon auszugehen, dass jemand, der Probleme mit dem Lesen hat, in die Zeitung sieht oder unser Vhs-Programm studiert. Deshalb haben wir alle Schulen und verschiedene Institutionen, unter anderem das Jobcenter in Fürth, angeschrieben und darum gebeten, auf unser Angebot aufmerksam zu machen. Im Gymnasium Oberasbach haben wir jetzt angefragt, ob uns Schüler ein Piktogramm entwickeln können, mit dem wir Analphabeten direkt ansprechen. Bisher sind wir darauf angewiesen, dass Nahestehende die Betroffenen auf unser Angebot aufmerksam machen.

Nur sind Analphabeten sehr geschickt, ihr Defizit zu verbergen.

Clemens: Natürlich. Habe ich ein Problem mit einem Bereich, der den meisten anderen eine Selbstverständlichkeit ist, zehrt das am Selbstwertgefühl. Sich zu outen, ist das größte Problem. Dabei kann jemand, der kein Wort schreiben kann, in praktischen Dingen ungemein kompetent und kreativ sein. Aber wir wollen nicht stigmatisieren oder den Zeigefinger heben. Es geht einfach um eine Hilfestellung, im Alltag besser zurechtzukommen.

 

Wie kommt denn jemand durchs Leben, ohne lesen, geschweige denn Geschriebenes verstehen zu können?

Clemens: Die Betroffenen entwickeln Techniken, um ihr Handicap zu kaschieren. Da hat man dann eben die Brille vergessen und so liest der Kollege die Gebrauchsanweisung vor. Ich habe auch schon erlebt, dass eine Schülerin für ihre Mutter das Lesen übernahm, gleich ob es Elternpost der Schule oder die Preise beim Einkauf waren.

Hable: Der Leistung dieser Menschen müssen wir Respekt zollen, sie sind Lebenskünstler. Die Kehrseite ist, sie verlieren Lebensqualität. Das merke ich, wenn sich jemand bei uns an der Vhs etwa für eine Reise anmelden möchte und bei der Bitte, das schriftlich zu bestätigen, einen Rückzieher macht. So wird die Scham über die mangelnde Schriftkompetenz zur Hürde bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

 

Was erwartet Betroffene im Kurs?

Clemens: Am Anfang steht ein unverbindliches Erstgespräch, in dem wir die individuelle Ausgangslage ergründen. Das ist die Basis für den Unterricht. Ich habe 40 Jahre als Grundschullehrerin gearbeitet, mir stehen die verschiedensten Instrumente zur Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenz zur Verfügung. Zeitlich bin ich als Pensionärin völlig flexibel. Ich stehe Gewehr bei Fuß. Die Gruppen werden sehr klein sein, der jungen Frau hätte ich auch Einzelunterricht gegeben.

 

Ihr Angebot ist kostenlos. Wie finanzieren Sie es?

Hable: Dank der Unterstützung der Landkreis-Stiftung müssen wir nichts verlangen. Was allerdings nur recht und billig ist, wie ich finde. Deutschland ist ein Kulturland, in dem es, egal für welches Alter, ein Bildungsangebot im Fach Lesen und Schreiben geben sollte. Doch nach der Schulzeit bieten sich kaum Möglichkeiten, es sei denn man wohnt in den Großstädten, wo Lernwerkstätten für Analphabeten etabliert sind. Das können wir als kleine Vhs natürlich nicht leisten. Aber wenn jemand den Mut aufbringt, nach Hilfe zu suchen, sollte ihm auch im Landkreis Fürth geholfen werden.

VHS, Telefon (09 11) 9 69 11 48, Gerd Hable oder Martina König.

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