Weißes, übles Land

28.4.2012, 14:30 Uhr
Weißes, übles Land

© Sobczyk

„Heute treffen wir einen der ungewöhnlichsten Autoren der jüngeren Generation“, begrüßt Moderator und Autorenkollege Dirk Kruse das Publikum. „Und das nicht nur, weil er nicht in Berlin lebt, sondern in Augsburg.“ So zeichnen sich die vier bisher erschienenen Romane des 35-Jährigen unter anderem dadurch aus, dass die Texte immer wieder durch Fotos, Tabellen, Comics unterbrochen werden. So auch bei seinem aktuellen Werk, dem 400 Seiten starken „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“.

Renate Meisner, 42, arbeitet im 13. Stockwerk einer Münchener Versicherung. Ein gefährlicher Ort, an dem die Angestellten Seminare mit Titeln wie „Nutze Deinen Hunger“ absolvieren, „Desaster Monopoly“ spielen und sich in freien Minuten vorstellen, wie sie einander penetrieren oder umbringen. Bei aller Verrücktheit ist das Buch in Tonfall und Darstellung erstaunlich glaubwürdig; fast alles, so der Autor, beruhe „auf Einfühlungsvermögen und Erfindungsreichtum“. Selbst die zahlreichen Tabellen hat er selbst erfunden. Respekt für solch überzeugende Fabulierkunst! Um einen „realistischen Angestelltenroman“ sei es ihm, so Steinaecker, nie gegangen. Vielmehr sei sein Thema „die Suche der Personen nach Authentizität in einer Welt der totalen Ökonomisierung“.

Untertanengeist und Obrigkeitshörigkeit sind kein „Privileg“ der Deutschen. In Sherko Fatahs „Ein weißes Land“ ist es der junge Iraker Anwar, der in den 30er Jahren in den Sog der faschistischen „Schwarzhemden“ gerät. Im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem, der mit den Nazis paktierte, kommt er 1941 nach Deutschland, beteiligt sich an Verbrechen, kämpft in einer sogenannten fremdvölkischen Einheit und erlebt, heimgekehrt, Mitte der 50er Jahre den Exodus der Juden aus dem Irak.

Immer schweigend, mithelfend, servil, nicht verstehend, was um ihn herum vorgeht, so charakterisiert Fatah seinen Protagonisten. Ein Vorbild ist Anwar wirklich nicht. Ob es sich jedoch um eine sympathische oder unsympathische Figur handelt, darüber gehen die Meinungen im Kulturforum auseinander. Moderatorin Corinna Mielke vom BR stellt viele Fragen; doch hier gibt es keine einfachen Antworten. Fatah meint diplomatisch, er habe beides in seinem Werk angelegt.

In jedem Fall öffnet diese ungewöhnliche Lebensgeschichte neue Horizonte. Fatah, der einen irakisch-kurdischen Vater und eine deutsche Mutter hat, wuchs in Ostberlin auf und reiste immer wieder in den Irak. Später siedelte die Familie in den Westen über. Das verschafft Weitblick. Der Autor hat eine Art Schelmenroman verfasst; der Leser weiß aus heutiger Perspektive stets mehr als Anwar, der scheinbar so simpel ist wie bauernschlau. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem historischen Roman zu tun, denn der Großmufti war real existent und ließ sich von Hitler im Hotel Adlon fürstlich unterbringen.

Fatah liest Ausschnitte, die das Bagdad der 30er Jahre porträtieren, eine Szene in einem Kino. Anwar sitzt dort mit seinem jüdischen Freund und dessen Schwester, für die er heimlich schwärmt. Er wird sie beide verraten. Ein interessanter Roman, der jedoch zuweilen überfrachtet wirkt und allzu viele aktuelle Probleme mit dem Rückgriff aufs Historische klären will.CLAUDIA SCHULLER
 

Keine Kommentare