Wir sind die neuen Juden

20.5.2017, 15:13 Uhr
Wir sind die neuen Juden

© Foto: Hans-Joachim Winckler

Es geht doch nichts über einen ordentlich versauten "gemütlichen Abend". Versaut in dem Sinne, dass die erhoffte Harmonie ausbleibt, dafür aufgestaute Frustrationen sich lautstark, wortgewaltig und handgreiflich Bahn brechen. Am Ende betrachtet der Theatergänger die Trümmer, freut sich, dass wenigstens er überlebt hat, und fragt sich, was ihn daheim wohl erwarten mag.

Das war schon beim "Gott des Gemetzels" von Yasmina Reza so. Doch wo Reza ihre kultivierten Eltern sogleich aufeinander loshetzt, legt Ayad Akhtar sorgfältig die Lunten. Auch in "Geächtet", dem Debütstück des aus Pakistan stammenden New Yorker Schriftstellers, treffen zwei wohlsituierte Paare aufeinander. Nach außen hin und in ihrem Selbstverständnis sind sie absolut integrierte Mitglieder ihrer Gesellschaft, doch hinter der Fassade der Respektabilität lauert die Angst vor der Ausgrenzung.

Faschistische Ideologie

Amir Kapoor (Murat Seven) ist gebürtiger Pakistaner, also Moslem, wenn auch nur dem Namen nach. Der Islam ist für ihn eine faschistische Ideologie, die sich als Religion tarnt. Amirs Nachname Kapoor weist auf die indische Kultur hin, eine Tarnkappe, die er dankbar gebraucht. Als Wirtschafts-Rechtsanwalt in einer von Juden geführten Kanzlei in New York hofft er auf den großen Karrieresprung.

Seine Frau Emily (Ulrike Fischer) ist eine Wasp, eine weiße angelsächsische Protestantin. Als Künstlerin interessiert sie sich mehr für die islamische Kultur als ihre eigene und wundert sich, weshalb ihr angepasster Mann seine Wurzeln verleugnet. Der jüdische Kurator Isaac (Oliver Fobe) protegiert Emily, gleichzeitig fühlt er sich mehr als nur beruflich zu ihr hingezogen. Die Farbige Jory (Kira Lorenza Althaler), Isaacs Frau, hat sich aus dem Schwarzenghetto herausgearbeitet und praktiziert als Amirs Kollegin in derselben Kanzlei.

Lotet der erste Akt das Beziehungsgeflecht und das Selbstverständnis zwischen Amir und Emily behutsam aus, so kommt es im zweiten Akt, beim Abendessen zu viert, langsam aber unerbittlich zur Katastrophe.

Wobei die eigentlichen Ursachen außerhalb der Bühne stattfinden. Amir hatte als einer von mehreren Anwälten einen angeklagten Imam vertreten, die Presse hatte darüber berichtet und Amirs Namen kolportiert. Auf einmal rühren sich die Kollegen nicht mehr, der Chef stellt ihn über seine Herkunft zur Rede, er sieht sich in Acht und Bann geschlagen. Dies erfährt man im Dialog zwischen Amir und Emily. Ist das nun Einbildung oder am Ende die krasse Wahrheit?

Der Zuschauer weiß es nicht, und das lässt ihn je nach Gusto mit Amir leiden oder ihn distanziert beobachten. Regisseur Barish Karademir trägt dieser Ungewissheit Rechnung, indem er den einzigen Schauplatz — Amirs Wohnung — auf eine Drehbühne stellt. Zeigt die Außenseite eine hässliche, abweisende Fassade, so präsentiert Bühnenbildner Andreas Braun auf der Rückseite einen in nobler Zurückhaltung gestalteten Loft mit rostigen Stahlträgern und mannshohen Fenstern. Je nach Drehung sieht der Zuschauer die Beteiligten sowohl von innen als auch von außen durch die Glasfassade. So arrangiert Karademir ein plausibles Spiel von Nähe und Distanz.

Jenseits der Konventionen

Ein weiteres Regiemittel sind die Masken, die sich alle Beteiligten aufsetzen. Da greift der Regisseur auf ein uraltes Werkzeug zurück. Während die alten Griechen und Römer im Theater eine Maske trugen — eine Persona, die Charaktere bzw. Gefühlszustände ausdrückt —, so tragen die Schauspieler hier fleischfarbene Larven, dünne Häute über der oberen Hälfte des Gesichts.

Die Larven belassen die Gesichter noch kenntlich, bewirken aber eine optische Gleichmacherei, drücken Überanpassung aus. Sie machen aber auch gespannt auf den Moment der Demaskierung, wenn die Beteiligten ihre Konventionen aufgeben und Tacheles reden. Das ist dann der Fall, wenn sich Isaacs Liebe zu Emily Bahn bricht, während Amir seine Wut erst an Jory, dann an Emily auslässt.

Da fast alle Figuren auf ihre Weise Außenseiter sind, fragt es sich, wie die schweigende Mehrheit beschaffen ist. Hier offenbart sich die versteckte Tücke des Dramas. Amirs Arbeitgeber sind Juden, also selbst ehemals Ausgegrenzte, die sich hochgearbeitet haben und nun fürchten, als Sympathisanten des islamischen Feindbilds in die falsche Ecke gestellt zu werden. Das gipfelt in Amirs Postulat "Wir sind die neuen Juden", wobei mit "wir" die Moslems gemeint sind, zu denen er sich nach eigenem Selbstverständnis gar nicht zählt.

Im Epilog, wenn alle Beziehungen zerstört sind, steht Amir vor der Wahl der Radikalisierung, wie sie sein Neffe Abe (Josef Mohamed) vorlebt, oder der totalen Resignation. Dass Autor Akhtar seinem Helden keine weiteren Auswege gönnt, sorgt zwar für einen kurzfristigen Knalleffekt, offenbart aber auch eine ernste Schwäche seines Stücks.

Ein Problem ist, dass "Geächtet" augenscheinlich sehr auf amerikanische Verhältnisse zugeschnitten ist. Hinter allen Argumenten kollidiert letztlich der amerikanische Traum von Freiheit und Erfolg durch Leistung mit dessen Schattenseite, der grotesken Überanpassung und Verleugnung der kulturellen Wurzeln. Das macht die Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse, die zwar ähnlich, aber nicht deckungsgleich sind, nicht gerade leicht, umso mehr, als es dem Theaterbesucher ein diebisches Vergnügen bereitet, wenn "die da oben" krachend scheitern.

Just das aber scheint dem Premierenpublikum gefallen zu haben. Starker, langer Beifall für Darsteller und Inszenierung.

Weitere Termine: Heute sowie 30. Mai bis 2. Juni, jeweils 19.30 Uhr, Stadttheater. Karten im FN-Ticket-Point (Schwabacher Straße 106, Tel. 2 16 27 77) und an der Theaterkasse.

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