Gunzenhausen: Gruselgeschichten vom Hausgespenst

20.8.2016, 07:33 Uhr
Gunzenhausen: Gruselgeschichten vom Hausgespenst

© Babett Guthmann

Heute wird mal nicht gewandert und geradelt, heute wird in Kindheitserinnerungen geschwelgt: Ich sitze auf der Haustreppe jenes Hauses, in dem früher meine Oma gewohnt hat, am Kirchenplatz, Hausnummer 6, und erinnere mich: Hier habe ich als Kind oft gewartet, nachdem ich an dem Klingeldraht gezogen hatte. Meine Oma wohnte im ersten Stock, und das leise „Pling“ der Glocke – das Ganze funktionierte so ähnlich wie eine Fahrradklingel – hätte Oma nie gehört, aber ihr Spitz „Sissi“ fing sofort an, sich heiserzukläffen. Das Gebell konnte selbst Oma nicht überhören, und so öffnete sie erst einmal ihr Stubenfenster im ersten Stock und beugte sich über das Fensterbrett. „I kumm glei nunder!“, versprach sie, dann begann für mich die Traumzeit.

Oma würde eine Ewigkeit brauchen, eh sie Schloss und Riegel der Eingangstür von innen öffnen würde. Ich saß also auf den durchgetretenen Stufen der Steintreppe und legte den Kopf in den Nacken. Omas Haus steht nicht auf dem Vorplatz der Kirche, sondern in dem allenfalls zwei Meter breiten Gässchen, das an der westlichen Breitseite des Langhauses von St. Marien entlang führt und die beiden Kircheneingänge verbindet.

Von der Haustreppe aus kann man ein bisschen Himmel sehen, über die Höhe der Stadtkirche staunen und beobachten, wie das alte Wohnhaus sich respektvoll vor dem Kirchenbau zurückneigt. Ob sie keine Bedenken habe, dass ihr Haus mal hintenüberkippen könnte, hab ich einmal gefragt, aber Oma war sich sicher, ohne die Jahreszahl des Baus, nämlich 1756, zu nennen: Das Haus stünde schon so lange da, das werde sie auch noch überleben!

Auch heute lege ich den Kopf in den Nacken: Alle Wohnhäuser südlich der Kirche tanzen ein wenig aus der Reihe, und mit dem rechten Winkel haben sie nie so recht Freundschaft geschlossen. Doch allesamt sind sie in den letzten Jahren ein wenig hergerichtet worden. Es lebt sich herrlich ruhig im Kirchenschatten, obwohl doch die Geschäftigkeit des Marktplatzes gleich ums Eck vom Altmühl-Boten beginnt.

Omas frühere Haustreppe ist von einem der nachfolgenden Besitzer akkurat gefliest worden, und ein Aluminium-Vordach schützt vor Wind und Wetter. So ganz passen die neuen Materialien nicht zur alten Bausubstanz. Aber ich kann das verstehen: Wer in einem solch alten Gemäuer wohnt, möchte sich wenigstens über ein einziges neues Teil freuen, das keine jahrhundertealte Patina angesetzt hat.

Bestens zu meinen Kindheitserinnerungen passen hingegen die höchstens einen halben Meter breiten Durchgänge zwischen den Häusern hier: feucht und finster, genauso wie zu Omas Zeiten! Gäbe es an diesen Häuserseiten Fenster, könnten sich die Altstadt-nachbarn tatsächlich gegenseitig in die Suppe spucken, so eng gedrängt wurde hier gebaut.

Wegerecht darf nicht verfallen

Den weniger als schulterbreiten Weg zwischen ihrem Haus und dem damaligen Haus vom Bäcker Schmidt benutzte Oma mehrmals im Jahr und schlüpfte so über den Eggmayer-Hof bis zur Weißenburger Straße durch. Sie habe da zwar nichts zu erledigen, doch sei ein Wegerecht eingetragen, belehrte sie uns. Und das Wegerecht müsse ab und zu genutzt werden, damit es nicht verfalle.

Einen Garten hat keines der Häuser neben der Kirche, aber gegenüber vom hinteren Kircheneingang genießt die Jakobusfigur von Ernst Steinacker den Ausblick auf die Zwetschgenbäume, die in den beiden kleinen, zum Mesnerhaus gehörigen Einfriedungen stehen. Heute wird das Mesnerhaus von der Kirchengemeinde als Treff genutzt. Der alte Denkfelder war wohl der letzte Kirchendiener, der hier gewohnt und Tag und Nacht für Ruhe rund um die Kirche gesorgt hat.

Gunzenhausen: Gruselgeschichten vom Hausgespenst

© Babett Guthmann

Als Kinder haben wir den Mesner gefürchtet. Wehe, er erwischte uns, wenn wir unseren Gummiball gegen die Kirchenmauer dotzen ließen: „Balln kennder hinder der Altmühl, ihr Bankerter!“, schimpfte er und hinkte auf uns zu. Wir hüpften kichernd zur Haustür rein und schlugen diese mit Krach zu: Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, verbinde ich noch heute mit dem muffigen, dunklen Hausflur meiner Großmutter. Und zur Altmühl – was für ein Ansinnen! — da durften wir gar nicht alleine hin, denn dort ertranken die Kinder reihenweise. So machte uns jedenfalls die Oma Angst.

Der Besuch am Kirchenplatz 6 erinnert mich überhaupt an die vielfältigen Befürchtungen und Ängste meiner Großmutter, die sie geflissentlich an die Enkelgeneration weiterzugeben versuchte. Sie machte sich nicht nur Sorgen darüber, dass ihr nutzloses Wegerecht verfallen und eins ihrer Enkelkinder in der reißenden Altmühlströmung versinken könnte, auch vor Einbrechern und sonstigen Missetätern meinte sie sich schützen zu müssen.

Ich sehe heute noch ihren dicken Schlüsselbund vor mir und höre das Raspeln der mit zwei Umdrehungen abgesperrten Zusatzschlösser der Marke „Burgwächter“. Für jedes Schloss brauchte sie zwei Schlüssel und dazu noch innen einen Riegel zum Zuschieben. Nur die Klotür, die hatte gar keinen Schlüssel, wie praktisch!

Mit Respekt erzählte Oma von ihrem Hausgespenst, dem Mönch. Der sei im Keller wohnhaft – da sei sie sich sicher, denn dort gebe es noch die Grundmauern eines früheren Klosters. Nur einmal habe ich heimlich mit meiner Cousine den Keller betreten, und beim Anblick des ersten Sandsteins und des gestampften Lehmbodens waren wir uns sicher, das Grab des Mönchs entdeckt zu haben.

Grabstätte nahe der Kirche

Heute ist neben dem Kircheneingang eine Steinplatte angebracht, die zur Mönchsgeschichte meiner Großmutter passende Fakten liefert: „Um 800 wurde auf dem ehemaligen Kastellplatz das Kloster „Gunzinhusir“ gegründet“, heißt es dort, und es findet sich zudem der Hinweis auf eine alamannische Grabstätte südlich der Kirche. Meine Phantasten-Oma hätte beim Fakten-Check ihrer Mönchsgeschichte gar nicht so schlecht abgeschnitten. Jedenfalls gibt es alte Grabstätten in der Nähe der Kirche.

Als ich Omas Häuschen fotografiere, kommt Karl König, der heutige Besitzer des Hauses, dazu und lädt mich zu einer Besichtigung ein. Ich erzähle dem geschichtsinteressierten Neu-Gunzenhäuser vom Mönch, und er zeigt mir gerne den Keller. Oje, der Boden ist betoniert worden: „Sie haben den Mönch zubetoniert!“, scherze ich. Karl König beteuert, das seien die Vorbesitzer gewesen. Da das Haus innen so modern und un-omahaft wirkt, will ich gar nicht mehr weiter besichtigen, und wir setzen uns noch eine Weile zusammen auf die Haustreppe.

Der neue Hausbesitzer freut sich, zu hören, dass das Haus schon immer so in Rückenlage dastand und nicht die Spur ans Umfallen denkt. Er wohne gerne hier und genieße die Ruhe am Kirchenplatz, schwärmt er. Wir sprechen über kostenlose Orgelkonzerte und schätzenswerte alte Bausubstanz. Oma hätte der Mann gefallen, und da sie viel Humor hatte, hätte sie sicher eine schöne Geschichte daraus gemacht, dass nach ihr einmal ein König in das alte Haus einziehen wird.

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