In Palästina gibt es seit vielen Jahren zwei Wahrheiten

25.4.2015, 07:00 Uhr
In Palästina gibt es seit vielen Jahren zwei Wahrheiten

© Marianne Natalis

Die Schülerinnen und Schüler der 11. Jahrgangsstufe kennen den Nahostkonflikt spätestens aus dem Geschichts- und Sozialkundeunterricht, doch nun erhielten sie im Rahmen des Workshops in der Aula der Schule die einmalige Gelegenheit, ihr theoretisches Wissen im (englischen) Gespräch mit Vertretern aus dieser krisengeschüttelten Region zu vertiefen. Tal Harris und Samer Makhlouf nehmen die Gymnasiasten dabei für kurze Zeit mit in einen Alltag in Israel beziehungsweise Palästina, von dem wohl selbst der beste Unterricht kaum eine Vorstellung vermitteln kann; die Erlebnisse der beiden „One Voice“-Mitarbeiter beeindrucken nachhaltig.


Kindheit und Jugend in einem Lager

Samer Makhloufs Mutter etwa wurde in Jaffa geboren. Im Zuge der Gründung des Staates Israel wurde die angesehene und gut situierte Familie aus der Stadt vertrieben und reihte sich ein in das Heer an palästinensischen Flüchtlingen, das heute rund sechs Millionen Menschen zählt. Samer wuchs in einem Flüchtlingslager auf, wurde dort sehr früh politisiert. Zumal Schule für palästinensische Kinder keine Selbstverständlichkeit ist, Samer selbst konnte zwei Jahre lang keine Schule besuchen, sie war von den israelischen Besatzern geschlossen worden. Die erste Intifada im Jahr 1987 erlebte Samer hautnah mit, da war er jünger als die Gymnasiasten, die ihm nun zuhören.

Militär, Schüsse, Blut, Verhaftungen, Tote – das gehörte ganz selbstverständlich zu Samers Alltag. Mit 15 wurde er erstmals verhaftet und nach eigenen Worten gefoltert. Hass und Gewalt waren sein tägliches Brot. Das ging so weiter bis zum nächsten Aufstand seines Volks, der im September 2000 begann. Diese zweite Intifada war, erinnert sich Samer, viel härter, viel gewaltvoller als der „Krieg der Steine“ im Jahr 1987. Spätestens als sein Vater vor seinen Augen erschossen wurde, fing Samer an umzudenken.

Er möchte nicht, schilderte er in der Aula des SMG, dass sein Sohn erleben muss, was er selbst mitgemacht hat. Das wurde für Samer Makhlouf eine ganz wichtige Motivation für die Friedensarbeit. Ein Einsatz, der längst nicht von allen seinen Freunden anerkannt und akzeptiert wird, wie er auf eine Frage hin erläuterte. Manche könnten nicht verstehen, warum er nicht mehr für die Sache der Palästinenser kämpfe. Dabei tut Samer das mit dem Engagement für „One Voice“ doch gerade.

Angst war ständiger Begleiter

Tal Harris dagegen hatte, so sah er das damals, eigentlich eine ganz normale Kindheit. Er wuchs in einem ruhigen Kleinstädtchen nördlich von Tel Aviv auf, ging zur Schule, hatte Spielkameraden, als Teenie verliebte er sich – was man halt so macht. Dass die Angst, die ihn dabei ständig begleitete, nichts Normales ist, das wurde Tal erst viel später klar. Diese Angst, wenn man in einen Bus steigt, dieses automatische Abchecken der Passagiere auf der Suche nach einem möglichen Selbstmordattentäter – jeder Araber war per se verdächtig – und die Überlegung, in welchem Teil des Busses im Falle eines Anschlags die Überlebenschancen größer sind – ein in Israel viel diskutierter Dauerbrenner.
Seit neun Jahren arbeitet Tal Harris jetzt für „One Voice“, Samer Makhlouf stieß 2009 dazu. Beide verbindet eine tiefe Freundschaft, wenn sie nicht zusammen unterwegs sind, telefonieren sie täglich. Nicht so einfach dagegen ist es für sie, sich gegenseitig zu besuchen. Denn obwohl es von Ramallah nach Tel Aviv gerade mal 62 Kilometer sind, kann Samer nicht einfach ins Auto steigen und schnell mal rüberdüsen.

Will er als Palästinenser nach Israel einreisen, benötigt er einen Permit. Den Passierschein gibt es in der Regel nur für einen Tag, um 21 Uhr muss Samer wieder zurück sein. Mal eben einen Familienausflug ans Mittelmeer machen, ist genauso schwierig, erläutert er auf Nachfrage. Und dass er und seine Frau dann auch beide einen Permit erhalten, dafür gibt es keine Garantie. Als besonders schrecklich empfindet Samer die Checkpoints, die es zu Hunderten in Israel gibt. Das Verhalten der Armee und der Grenzpolizei gegenüber Palästinensern sei oft demütigend.

Dennoch, Tal und Samer sind beide davon überzeugt, dass es keinen anderen Weg als Gewaltfreiheit gibt, um eine Lösung für diese traumatisierte Region zu finden. Kompromissfähigkeit und ein kleines bisschen Vertrauen, nur auf dieser Basis könne Frieden erwachsen.

Durchaus beschwerlicher Weg

Ob sie überhaupt noch an die Zwei-Staaten-Lösung glauben, werden die beiden gefragt, und der Workshop gibt darauf wohl die beste Antwort. Sie würden nicht fern von ihrer Heimat in einer mittelfränkischen Schule stehen, wenn sie nicht davon überzeugt wären, dass Frieden in ihrer Heimat möglich ist. Warum er sich für den eher beschwerlichen Weg des Friedensaktivisten entschieden hat, macht Tal den Schülern am Ende klar: Egal, welches Ziel ein Mensch hat,  „ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr darauf wartet, dass es die nächste Generation tut“.

Keine Kommentare