Lesung mit Bittenbinders: Horvàths Pollingerin erniedrigt sich

23.3.2018, 17:29 Uhr
Lesung mit Bittenbinders: Horvàths Pollingerin erniedrigt sich

Hätte das Fräulein Pollinger nicht in den Zeiten der Weimarer Republik gelebt, sondern rund 100 Jahre später – vielleicht hätte sie dann in sozialen Netzwerken auch ein #metoo geteilt. Sie hätte die Worte und Berichte anderer Frauen gelesen. Vielleicht hätte sie dann den Mut gefunden, aufzustehen und ihr eigenes Rollenbild und Selbstverständnis zu überdenken.

Vielleicht wäre aber auch alles beim Alten geblieben und nichts wäre anders gelaufen. Denn die Aktualität und Brisanz ihrer Konflikte ist fast schon unheimlich.

Mann gegen das Mittelmaß

Anna Pollinger stammt aus der Feder des Schriftstellers Ödön von Horvàth. Und ihr widmete Johanna Bittenbinder einen ganzen Abend, gemeinsam mit ihrer Tochter, der Musikerin Veronika Bittenbinder, und dem großen Thema des Frauenbildes. In der Gesellschaft, aber auch in den Köpfen der Frauen selbst.

Anna Pollinger ist in jeder Weise durchschnittlich. Weder besonders hübsch, noch besonders hässlich, unverheiratet, angestellt als Bürokraft bei einer Kraftwagenvermietung. Also ehemals angestellt, bis das Unternehmen pleite geht. Um sich selbst einen Wert zu geben und ihrer empfundenen Mittelmäßigkeit zu entfliehen, sieht Anna nur einen einzigen Weg: an der Seite eines starken Mannes zu sein. Ein nicht ungefährliches Selbstbild, das die Männer um sie herum gnadenlos auszunutzen wissen, und welches das Fräulein Pollinger schließlich zum Äußersten zwingt: Sie beginnt, Geld für ihre sexuellen Dienste zu verlangen.

Frauen in der Männerwelt

Ödön von Horvàth lässt in seinen Texten kein gutes Haar an der Männerwelt. Eigentlich ist Anna Pollingers große Sehnsucht eine zutiefst menschliche: lieb gehabt zu werden, Halt und Geborgenheit und die Gewissheit, geachtet und wertvoll zu sein. Doch stattdessen muss sie sich als Objekt sexueller Begierden ihres männlichen Umfeldes erkennen und versucht, in der Selbsterniedrigung ihr Selbstbewusstsein zu finden.

Die Schauspielerin Johanna Bittenbinder gibt Horvàths weiblicher Lieblingsfigur eine Stimme. Sie liest fast ein bisschen naiv, manchmal etwas ironisch, manchmal ganz lapidar, was die schmierige Stimmung der Texte und den Sog aus Liebe und Macht, Erniedrigung und Selbstaufgabe noch schwerer und gewaltiger werden lässt.

Songs und Selbsterniedrigung

Lesung mit Bittenbinders: Horvàths Pollingerin erniedrigt sich

© Fotos: Bernadette Rauscher

Jazzmusikerin Veronika Bittenbinder streut immer wieder Songs ein, die sich subtil in den Abend einfügen und ihn, obwohl nicht explizit für das Programm verfasst, zu einem atmosphärisch dichten Ganzen werden lassen. Ihre Lieder verknüpfen die Texte aus der Weimarer Republik mit der Lebenswelt der Jugend von heute - und deren Rollenbilder. Soulig und jung, irgendwo zwischen Julia Engelmann und Max Mutzke. Begleitet wird der klare Gesang ausschließlich von René Haderer und seinem E-Bass. Es entsteht ein sehr berührender, kurzweiliger, unterhaltsamer Abend mit Tiefgang, der trotz des recht überschaubaren Publikums eine inten- sive und eindringliche Atmosphäre schafft.

Anna Pollinger gelingt es nicht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen mit einem Selbstbewusstsein, das sie nur aus sich selbst schöpfen kann. Stattdessen ist "ihr fast alles in ihrem Leben einerlei. Und das musste es auch sein, sonst hätte sie es nicht ausgehalten."

"Ich würde Anna Pollinger gerne mitgeben, dass sie nicht alleine ist", sagt Johanna Bittenbinder. Und dass eine gute Partnerschaft nur auf Augenhöhe stattfinden kann. Vielleicht hätte das Schicksal der jungen Frau dann ganz anders ausgesehen. Vielleicht.

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