Nach Neuburg: Auch fränkischer Notarzt kassierte Anzeige

14.2.2015, 06:00 Uhr
Nach Neuburg: Auch fränkischer Notarzt kassierte Anzeige

© Natalis

Es war ein Nachmittag im Jahr 2013, Dr. Hartmut Stark wird diese Fahrt wohl nie vergessen. An diesem Tag war der Gunzenhäuser Mediziner wie schon so oft als Notarzt im Einsatz. In Wassertrüdingen war ein Kind von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden. „Gerade wenn es um ein Kind geht, dann weiß man, dass es  pressiert“, macht der Arzt im Gespräch mit dem Altmühl-Boten klar. Und die Wörnitzstadt liegt ja nicht gerade um die Ecke.

Dennoch überholte er, vorschriftsmäßig mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs, nur dann, wenn die Strecke gut einsehbar war. Zwischen Unterwurmbach und Cronheim fuhren ein Lkw und zwei Pkws vor ihm aufmerksam zur Seite, doch ein entgegenkommender Autofahrer machte keine Anstalten auszuweichen, ging auch nicht vom Gas. Stark ist sich heute noch sicher, dass ihn der Mann am Steuer gesehen haben muss. Erst im letzten Moment verhinderte der Unbekannte durch eine Vollbremsung einen Zusammenstoß.

Rettungskräfte dürfen Sonderrecht nicht erzwingen

Stark kam noch rechtzeitig an die Unfallstelle nach Wassertrüdingen, das Kind wurde mit dem Hubschrauber in eine Klinik gebracht. Zurück in Gunzenhausen, teilte ihm die Rettungsleitstelle mit, er solle sich mit der Polizei in Verbindung setzen. Als er das schließlich tat, wollten die Beamten nicht etwa wissen, wie es dem Unfallopfer geht, sondern konfrontierten Stark mit der Tatsache, dass er von eben jenem Unbekannten angezeigt worden sei.

Tatsächlich gibt es den Zusatz in der Straßenverkehrsordnung, dass Rettungskräfte ihr Sonderrecht nicht erzwingen dürfen. Fühlt sich ein Verkehrsteilnehmer genötigt, so kann das, wie der Fall des Neuburger Notarztes zeigt, den Fahrer des Einsatzfahrzeugs teuer zu stehen kommen. Im Gegenzug ist es in Deutschland lediglich eine kleine Ordnungswidrigkeit, wenn ein Verkehrsteilnehmer einen Rettungswagen im Einsatz behindert. In den USA dagegen kostet das bis zu 400 Dollar, erläutert Dr. Martin Scharrer, der Obmann der Gunzenhäuser Rettungskräfte, im Nachbarland Österreich sogar bis zu 2000 Euro.

Genugtuung bei den Ärzten

Natürlich, dass der Strafbefehl gegen den Kollegen aus Neuburg an der Donau nun zurückgezogen wurde, erfüllt Dr. Marc Gutsche und seine Kollegen mit Genugtuung. Doch der Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Altmühlfranken Gunzenhausen wünscht sich darüber hinaus eine breite gesellschaftliche Diskussion. Denn der früher einmal allgemein gültige Konsens, dass man seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt, damit jemandem, der sich in Not befindet, geholfen werden kann, ist mehr oder weniger Makulatur. Gutsche, früher ebenfalls als Notarzt im Einsatz, beklagt vielmehr den zunehmenden Egoismus, mit dem Ärzte und Sanitäter tagtäglich im Straßenverkehr konfrontiert werden.

Da wird trotz Blaulicht und Martinshorn nicht ausgewichen, da nutzen Autofahrer frech die Gelegenheit zum Überholen, wenn die vor ihm fahrenden Wagen für das Einsatzfahrzeug ausweichen, oder sie geben, wenn sie selbst vom Notarzt überholt werden, richtig Gas und bringen die Helfer so erst in brenzlige Situationen. Solche und andere Momente hat nicht nur Scharrer, der seit über 30 Jahren als Notarzt tätig ist, schon mehrfach erlebt.

"Jeder Notarzt will sicher zum Einsatzort kommen"

Es ist für jeden, der zu einem Notfall unterwegs ist, natürlich immer eine Gratwanderung. Man möchte so schnell wie möglich in einer lebensbedrohlichen Situation helfen – und gerade auf dem Land müssen da ja manchmal ganz schöne Strecken zurückgelegt werden – und will andererseits niemanden gefährden, schildert Gutsche den Interessenskonflikt. Jeder Notarzt, jeder Sanitäter wolle ja auch selbst sicher an den Einsatzort kommen, ergänzt Scharrer.

Nicht mehr selbst am Steuer

Das ist einer der Gründe, warum sich viele Notärzte nicht mehr selbst ans Steuer setzen. Im Ballungsraum Nürnberg/Fürth/Erlangen fährt kein Mediziner im Einsatz mehr selbst, weiß Scharrer, und auch in Gunzenhausen greifen immer mehr Ärzte, auch er selbst, auf die diensthabenden Sanitäter in der Rettungswache des BRK zurück, zumal man dann auch nicht allein am Einsatzort ankommt. Damit ist das Problem allerdings nicht erledigt, sondern hat sich lediglich verlagert, weiß Hans-Jörg Blenk. Der Sanitäter fährt pro Woche bis zu 30 Einsätze mit dem Notarzt und erlebt selbst oft genug von Autofahrern verschuldete haarige Situationen.

Für sich selbst das Maximum fordern, eben zum Beispiel sofortige Hilfe im Notfall, aber keine Rücksicht auf die Interessen der Mitmenschen nehmen, das ist für Gutsche Ausdruck einer sich immer stärker ausbreitenden „gesellschaftlichen Schizophrenie“. Die Balance zwischen persön­lichen Freiheiten und gesellschaft­lichen Notwendigkeiten sei gestört, hier müsse wieder ein Ausgleich erreicht werden, bringt der Chefarzt das Problem auf den Punkt, bevor er sich eilig in den OP verabschiedet. Dass der Fall von Dr. Alexander Hatz eine so große Welle der Solidarität ausgelöst und offensichtlich eine gesellschaftliche Diskussion in Gang gesetzt hat, stimmt die Ärzte aber verhalten positiv.

Und Dr. Stark? Hatte damals noch einmal Glück. Ob er eine solche Anzeige verfolgt, liegt auch im Ermessen des Dienststellenleiters. Der Chef der Polizeiinspektion Gunzenhausen ließ die Sache fallen. Stark zog dennoch eine klare Konsequenz: Seit diesem Vorfall fährt er nicht mehr selbst, sondern lässt sich von den Sanitätern abholen.

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