Biengarten statt Rio oder: Wenn’s dem Körper zu viel wird

25.7.2016, 18:49 Uhr
Biengarten statt Rio oder: Wenn’s dem Körper zu viel wird

© Foto: Holger Peter

„2018 ist die Europameisterschaft in Berlin. Da möchte ich unbedingt dabei sein, und auch bei Olympia 2020 wäre ich längst nicht zu alt“, sagt Martin Grau in der guten Stube seines Elternhauses. Dorthin hat das LSC-Erfolgsduo zum Pressegespräch eingeladen. In Graus Rückzugsort, in dem er den leeren Akku auch wieder auftanken kann, wie er zugibt.

Denn „Leere“ ist das beherrschende Gefühl der vergangenen Wochen gewesen. So viel und so professionell wie noch nie hatte der 24-Jährige für die ersehnte Olympiateilnahme trainiert. Und musste nach all der Quälerei erkennen, dass weniger in diesem Fall wohl mehr gewesen wäre. Denn darin sind sich Coach Mönius und sein Schützling einig: „Wir haben lange Zeit vieles richtig gemacht, aber dann kamen viele Kleinigkeiten zusammen, die unsere ganzen Bemühungen ad absurdum geführt haben.“ Letztlich wurde der Deutsche Meister von 2015, der eine Bestleistung von 8:24,29 Minuten (2014) vorzuweisen hat, nicht wie geplant schneller, sondern so deutlich langsamer, dass Mönius schon lange in seinen Listen zurückblättern musste, um ähnlich mäßige Zeiten zu finden.

Bei exakt 8:30 Minuten lag die Norm für Olympia – unter 8:45 kam Grau heuer nicht. Immer auf den letzten Runden kam der Einbruch. Am plastischsten erlebte der Biengartener das im spanischen Huelva: Da waren viele Topläufer versammelt, um sich ihre „Quali“ für Rio abzuholen. Es wurde flott gelaufen, „da brauchte ich mich bloß hinten dranzuhängen“. Bis 2000 Meter bei einer Top-Durchgangszeit von 5:40 klappte das bestens. Nun überholte er sogar noch einen Läufer, der normalerweise etwa seine Kragenweite ist und dachte sich, dass es etwas werden könnte mit der Norm.

Doch eine Runde später kam „der Mann mit dem Hammer“. Nicht nur, dass der Zug vorne sich immer weiter entfernte – auch der zuvor überholte Läufer lief mühelos vorbei. „Ich konnte nicht einmal zwei Schritte mit ihm mitgehen“, erinnert sich Grau. Spätestens da war ihm klar: Das wird eine ganz schwere Saison.

Werte so gut wie noch nie

Dabei hatte lange Zeit nichts darauf hingedeutet, dass der zwei Jahre lang so dominante deutsche Hindernisläufer nicht in Form kommen könnte. Nach einem Herbsttrainingslager in Kenia, einem weiteren in Portugal und einem zweiten Aufenthalt in Kenia waren die Leistungs-diagnostischen Werte so gut wie nie.

Doch nun nahm das Unheil seinen Lauf – zunächst unbemerkt. Nur elf Tage nach der Rückkehr aus Ostafrika ging es nach Südafrika. Schon vor dem Abflug hatte Grau seinem Trainer nach dem Blick auf den Trainingsplan von Bundestrainer Werner Klein gesagt: „Markus, das ist relativ viel.“ Aber auch gleich – das große Ziel vor Augen – relativiert: „Aber ich denke, ich kann das schaffen.“ Mönius und er wollten die Listen noch einmal abgleichen mit denen von 2014, dem bisher besten Jahr des Hindernisläufers. Aber irgendwie seien beide darüber hinweggekommen.

Das Trainingslager in Potchefstroom war nämlich eigentlich perfekt: Trainiert wurde mit einer homogenen Truppe auf einer tollen Anlage mit Rundumversorgung bei optimalen klimatischen Bedingungen. Doch es hatte sich schon ein Fehler (im Nachhinein konstatiert) eingeschlichen. 2014 waren im Wochenplan stets vier Belastungs- und drei Entlastungstage notiert, diesmal lautete das Verhältnis 5:2. Der Athlet murrte nicht, schließlich galt es, für Olympia eine Schippe draufzulegen.

Und Anzeichen für ein Übertraining sind nicht in der Trainingsphase zu erkennen, sondern meist erst dann, wenn es zu spät ist. Inwieweit eine Zahnfleischentzündung eine Rolle beim Leistungseinbruch spielte, ist unklar. Diese trat just vor Südafrika auf, Grau bekämpfte sie drei Wochen lang mit geringen Schmerzmittelgaben (dreimal 200 Gramm Ibuprofen), weil ein Zahnarzt in Potchefstroom den kleinen Eingriff (wie sich nach der Heimkehr herausstellte) nicht einfach erledigte, sondern Graus gesamtes Gebiss für teures Geld sanieren wollte.

Zwar hätten ihm Ärzte, die er deswegen angerufen hatte, grünes Licht für das Training signalisiert. Und Grau glaubt auch, dass die Entzündung nicht schuld sei am Formverlust: „Aber ich befürchte, dass ich durch das Schmerzmittel etwas das Gefühl für meinen Körper verloren habe. Es war alles etwas gedämpft, sonst hätte ich wohl gemerkt, dass alles zu viel wurde.“

Zu allem Überfluss fing er sich bei seinem Bruder Bastian, mit dem er in Potchefstroom sein Zimmer teilte, einen Schnupfen ein. Kurz vor der Rückkehr – normalerweise keine große Geschichte, aber bei einem Leistungssportler, dessen Immunsystem ohnehin schon angegriffen war, noch ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte.

Richtig gemerkt hat Martin Grau seine „Leere“ erstmals gut eine Woche nach der Rückkehr aus Südafrika. Da startete er beim Abendsportfest in Erlangen, wo ihm über 1500 Meter am Ende die Luft ausging und er nur Dritter in mäßigen 3:52 Minuten wurde. Da schob das Tandem Mönius/Grau das noch auf das harte Trainingslager.

Doch die Frische wollte nicht zurückkehren – und konnte es auch nicht. Mönius: „Im Nachhinein betrachtet, war das heuer alles viel zu dicht getaktet. Die Trainingslager zu nah aneinander, dann die extrem früh terminierten deutschen und Europameisterschaften mit dem Zwang, die Normen eigentlich schon vorher knacken zu müssen.“

So durfte sich Martin Grau keine Ruhepause gönnen. Denn das Haupt-Qualifikationsrennen in Rehlingen nahte. Hier ging es ihm ähnlich wie später in Huelva – am Ende fehlten die Körner, um gegen Rivalen mitzuhalten, denen er sonst die Hacken zeigt. Der Druck auf Grau wurde immer größer, man wollte Olympia noch nicht aufgeben.

Der letzte Versuch

Die deutsche Meisterschaft war der allerletzte Versuch – und die nächste Enttäuschung. Das allerdings relativiert Mönius angesichts der jüngsten Laborwerte: „Das war eine Glanzleistung von Martin, unter diesen Umständen noch die Bronzemedaille zu holen. Das war purer Wille.“

Danach fiel die Entscheidung, die Reißleine zu ziehen. Aus der „Road to Rio“ war eine Sackgasse geworden. Auch die Sportmediziner in Tübingen rieten Grau dazu, von weiteren Belastungen abzusehen. Mit Joggingläufen hätte er sich fit halten können und eventuell Ende Juli wieder ernsthaft trainieren können. Aber lieber setzt er jetzt ganz aus, will „Baustellen“ an seinem Körper (Zähne, Fehlhaltung rechte Seite) vernünftig behandeln lassen, um ab dem Spätsommer wieder ins Training für das „Übergangsjahr“ 2017 einzusteigen. Auch das Studium soll nun etwas schneller voran kommen.

Die Rahmenbedingungen passen: Sowohl die Bundeswehr als Arbeitgeber als auch der Deutsche Leichtathletikverband signalisierten, dass er seinen Status trotz fehlender Leistungen in der aktuellen Saison behalten darf.

Die Wunden sind weitgehend geleckt. Mönius: „Die Erfahrungen dieser Saison waren nicht schön, aber wir müssen jetzt die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.“ Grau ergänzt: „Ich werde auf jeden Fall beim nächsten Mal anders an die Sache herangehen.“ Im Prinzip hätte er das Trainingslager in Südafrika wegen der Zahnentzündung abbrechen müssen, aber auch die Starts in Erlangen oder Rehlingen waren Dinge, die sich sowohl der Trainer als auch der Sportler nun ankreiden. Aber es stand halt Olympia vor der Tür . . .

Die Erkenntnis, dass weniger manchmal mehr sein kann, war schmerzhaft. Aber allein stehen die beiden Höchstadter damit nicht: Obwohl die Norm heuer ja vereinfacht wurde, haben nur acht Europäer sie geknackt. Grau: „Offenbar haben da einige andere auch im Training überzogen.“

Wer nun letztlich in Rio gewinnt, will Martin Grau schon wissen: „Ich werde vor dem Fernseher sitzen, wenn auch mit blutendem Herzen.“

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