Hemhofen: Lillys Spürnase riecht den Unterzucker

5.7.2016, 19:12 Uhr
Hemhofen: Lillys Spürnase riecht den Unterzucker

© Foto: Anestis Aslanidis

Als gäbe es nichts Besseres auf der Welt, lässt die quirlige Blonde die vielen Hände der Grundschüler zu, die sie streicheln, knuddeln und sich fast schon um die Wette anstellen, um mit ihr in der ersten Pause spazieren zu gehen – und eigentlich steht sie schon in den Startlöchern für den Auslauf im Schulhof. Auch, wenn es so aussieht: Lilly ist nicht nur zum Spaß hier, sie muss arbeiten.

Die Labradorhündin ist auf den Geruch des sieben Jahre alten Patrik ausgerichtet, ein paar Mal hat sie ihn schon vor der Ohnmacht, Krankenhausaufhalten und Schlimmerem bewahrt. Denn Patrik hat Diabetes. „Ein Mal“, erzählt der Junge, „da waren wir in Italien in einem Bällebad.“ Sein Papa Horst sagt, er war nur auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Lilly hat Alarm geschlagen, hat zwei Mal nachdrücklich gebellt – das Signal für die Eltern, dass das an Diabetes erkrankte Kind in einen gefährlichen Unterzucker rutscht.

Geruch eingeprägt

In der Grundschule Hemhofen ist Frühstückspause. Patrik isst eine belegte Laugenstange, sein Papa sticht ihm währenddessen in den Zeigefinger, um anhand eines Tropfen Bluts seine Blutzuckerwerte zu checken. Mit der einen Hand fischt Patrik ein kleines Gerät hervor, das aussieht als hätte man ein Handy halbiert. „Weicht aber ein wenig ab“, sagt der Papa als er die Werte sieht. Und weil Patrik eben noch ein Kind ist, haben sich Haags Lilly in die Familie geholt. Denn in diesem Alter ist nicht zu erwarten, dass ein Kind weiß, „in welchem Lebensmittel wie viel Kohlenhydrate sind und ob das für ihn ausreicht“, erklärt Haag.

Eineinhalb bis zwei Jahre hätte Lilly eigentlich in die Ausbildung gehen müssen, um diese Fähigkeiten zu trainieren. Doch das Tier war so clever und lernwillig, dass es die Abschlussprüfung zum Diabetes-Therapie-Hund schon nach einem Dreivierteljahr machte. Alle zwei Monate hat in einer Hundeschule ein Schulungsblock stattgefunden, in dem die Tiere auf ihre jeweiligen Assistenznehmer, also ihre Schutzbefohlenen, ausgerichtet worden sind: Sie haben sich per Probe ihren Geruch eingeprägt. Das heißt: „Lilly riecht schon, dass Patrik in einen Unterzucker fällt, bevor es das Messgerät weiß.“ Denn das zeigt nur den Momentwert, Lilly riecht die Veränderung. „Der Hund schlägt jedes Messgerät: In 99 Prozent aller Fälle hat sie bislang recht gehabt“, sagt Horst Haag. Einmal habe sie in einer vollen Fußgängerzone auf 300 Meter Entfernung gerochen, dass Patriks Werte fallen.

Seit fast zwei Jahren bereichert und erleichtert die Labradorhündin mit dem entspannten Gemüt die Familie Haag, damals war sie etwas älter als ein Jahr. Sie war die Lösung für die Probleme; diejenige, die Patrik ein halbwegs normales Leben ermöglicht. Denn mit ihr kann der Junge nachmittags zu Freunden, ohne dass seine Eltern dabei sind, denn im Zweifelsfall holt Lilly Hilfe bei Passanten und anderen Erwachsenen. Auf ihrem Rücken trägt sie – wenn sie im Dienst ist – eine Kenndecke, die ihre Aufgabe deutlich macht, und erregt Aufmerksamkeit, damit Erwachsene die Notrufnummern kontaktieren.

„Seine Erkrankung begann wie im Lehrbuch“, erinnert sich Horst Haag. Als Patrik fünf Jahre alt war, fiel seinen Eltern auf, dass der Junge in zwei Stunden drei Liter getrunken hat und immer noch durstig war. „Wir hatten gleich anfangs den Verdacht auf Diabetes, hatten aber noch gehofft, es wäre bloß eine Blasenentzündung“, erinnert sich der Vater. Sie sind mit ihm sofort in eine Klinik gefahren.

Auf der Suche nach einer Lösung, dem Kind das Leben mit der Krankheit leichter zu machen, sind Haags in eine Diabetes-Selbsthilfegruppe am Uni-Klinikum Erlangen gegangen und haben dort ihren ersten Therapiehund kennengelernt. „Patrik hat sich total draufgestürzt – und da war uns klar: Wir schaffen uns auch einen an.“ Zwischen uns hat es „vom ersten Augenblick an gepasst.“ Er blickt der Hündin tief in die Augen. Unterstützung durch die Krankenkasse, wie bei einem Blindenhund, haben Haags nicht bekommen. Rund 15 000 Euro hat Lillys Ausbildung gekostet. Zu den Haltungskosten kommt die Krankenversicherung für den Hund.

Tier mit Vollzeitjob

Ein völlig normales Leben mit Vollzeitjob sei mit dieser Erkrankung auf dem Land nicht möglich, sagt Haag. Zu jeder Schulpause und zu jeder Sportstunde müssen er und Lilly anwesend sein, denn ein Schulbegleiter kommt nur ganztags. Das ist teuer und in dem Maß nicht nötig, schränkt das Kind zu sehr ein. Also macht das der Papa. „Ich darf nie weiter als zehn Minuten von der Schule entfernt sein. Denn die Lehrkräfte dürfen Patrik keine Medizin geben.“ Um sie sich selbst zu verabreichen, ist der Siebenjährige noch zu sehr Kind. „Es ist einfach ein Ganztagsjob“, meint Haag, der eigentlich selbstständig ist.

Wenn Patrik älter ist und sich in der Schule die Aufregung um und die Kuschelmarathons für Lilly gelegt haben, wird mehr ungewöhnliche Normalität ankommen: Dann besucht Lilly mit Patrik den Unterricht.

Weitere Bilder: www.nordbayern.de/hoechstadt

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