Tschernobyl: Die Bilder bleiben präsent

29.4.2016, 14:00 Uhr
Tschernobyl: Die Bilder bleiben präsent

© Bildquelle: epd

Es war ein strahlender Tag, der 1. Mai 1986. Irene Lederer war damals mit dem Motorrad in der Fränkischen Schweiz unterwegs, das Wetter und das Freie genießen, wie es an diesem Donnerstag Viele taten.

Abends im Fernsehen sah die heutige Leiterin des Herzogenauracher Stadtarchivs dann die ersten Bilder vom geborstenen Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl. Ein Schock. Aber für Irene Lederer irgendwie auch eine Bestätigung. Sie war in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv und sah die schlimmsten Befürchtungen eingetroffen, derentwegen sie gegen die Atomindustrie auf die Straße gegangen war.

Heute, im Rückblick auf den Super-GAU vor 30 Jahren, bedrückt sie weniger die schleppende Information damals — „was hätte man denn machen sollen?“ — sondern die Tatsache, dass die Folgen der Katastrophe noch so stark spürbar sind — in der Ukraine, aber auch bei uns. Und: „Tschernobyl wird uns noch lange beschäftigen“.

Thomas Mölkner, Gewerkschafter und DGB-Ortskartellvorsitzender von Herzogenaurach, hat seither den 1. Mai in zweifacher Hinsicht im Kopf. Er erinnert sich an Angst und Unsicherheit in seiner Familie und bei allen: Was können wir überhaupt noch essen? Alle Lebensmittel, die aus der Natur kamen, habe man eine ganze Zeit lang bei Mölkners vermieden.

Und es ärgert Mölkner noch heute, wie „tröpfchenweise“ die Informationen über Ausmaß und Folgen bei uns durchsickerten. Die Regierung habe damals ein denkbar schlechtes Bild abgegeben. Die Gefahr, mit der die Atomindustrie spielte, sei heruntergespielt worden. Und immer der gleiche Satz: „Bei uns kann nichts passieren“.

Bei uns sind die Atomkraftwerke tatsächlich sicherer. Das will Hans Lang so stehen lassen. Der Altbürgermeister, damals bereits als CSU-Stadt- und Kreisrat in der Politik, ist damals freilich sehr nachdenklich geworden. Fast eine Woche nach der Katastrophe habe man nichts erfahren können über das Ausmaß der Gefahr, geschweige denn habe man irgend etwas steuern können.

Die Schweige-Taktik wirft Hans Lang der Sowjetunion noch nach ihrem Ende vor. Wie viele Menschen nahe dem havarierten Kraftwerk ahnungslos immensen Strahlungen ausgesetzt blieben — schrecklich. Ehrliche Aufklärung, das sei doch eine Frage der Selbstbestimmung für jeden Menschen.

Lang ist überzeugt davon, dass die Katastrophe von Tschernobyl in Deutschland ein Umdenken bewirkt hat, für ihn vielleicht die einzige positive Entwicklung bei all dem Negativen. Schock, dann Nachdenklichkeit und kritische Aufmerksamkeit, diese Einstellung habe schließlich, nach der zweiten Katastrophe, in Fukushima, zum Ausstieg aus der Kernenergie geführt.

Alexander Tritthart, 1986 ein 16-jähriger Herzogenauracher Teenager und heute Landrat, hat sich nach eigenem Bekunden damals furchtbar geärgert, wie wenig man erfuhr. Schließlich sei er — und bestimmt alle — nach den ersten Fernsehbildern regelrecht unter Schock gestanden. Und dann wurden die Leute über Tage in Unwissenheit gelassen.

Sogar bei Menschen, die vor 30 Jahren noch Kinder waren, ist Tschernobyl bis heute präsent. Christian Hoyer, damals zehn Jahre alt, erlebte den Schock von Tschernobyl vor allem als Verzichtserlebnis. Ihm wurde genommen, was er so gerne tat: mit den Großeltern in den Wald beim Heimatort Bubenreuth Pilze suchen. Das war mit einem Mal vorbei.

Was wirklich hinter diesem für den Jungen schmerzhaften Einschnitt steckte, erfuhr der heutige Herzogenauracher Museumsmann dann in der Schule. Dies und die Bilder aus Tschernobyl, vom klaffenden Reaktor und den Todeskommandos beim hastigen Schaufeln, haben sich eingeprägt, sagt Hoyer, sind bis heute präsent.

Auch bei Hannah Reuter, der Sprecherin des Landratsamts. Sie macht auch heute noch „einen weiten Bogen um Pilze aus Polen“. Sie war fünf Jahre alt damals, ihre Familie lebte in Köln. Warum ihre Mutter sie damals vom Spielen draußen ins Haus geholt hat, habe sie nicht so richtig verstanden. Erst später. Kindliche Kompensation in der Vorschule: Es wurden Strahlenwitze erzählt.

Maike Frick, NN-Redaktionspraktikantin, war noch nicht geboren, als die Katastrophe passierte. Sie assoziiert Tschernobyl mit den Krankheiten, unter denen die Menschen in der Ukraine deutlich schwerer leiden als die im übrigen Europa, Schilddrüsenkrebs zum Beispiel. Man spreche in ihrer Familie in Heroldsberg viel über die Katastrophe und die Energiepolitik. Konsens zwischen Eltern und Tochter: Atomkraft ist überflüssig.

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