Wie der Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer kommt

16.11.2018, 16:56 Uhr
Wie der Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer kommt

© Foto: Paul Neudörfer

Ohne Moritz läuft hier gar nichts. Im Vollsprint wetzt der große Rüde über das Gelände, begrüßt einen Mitarbeiter nach dem anderen. Und Moritz hat viel zu tun: Denn aktuell herrscht Hochbetrieb beim Weihnachtsbaumhandel in Wachenroth, wöchentlich kommen neue Saisonhelfer dazu. In wenigen Tagen holen sie die Ernte eines ganzen Jahres ein. 150 000 Bäume werden gefällt, damit die Menschen in Geschäften, Rathäusern, Marktplätzen und ihren Wohnzimmern wissen, dass bald Weihnachten ist.

Für eine besinnliche Zeit zu sorgen, ist ganz schön stressig. Rund 100 Mitarbeiter, vor allem Saisonhelfer aus Rumänien, sind täglich ab 7 Uhr im Einsatz. Bereits Mitte Juli werden die schönsten Bäume ausgesucht und markiert, im November fährt ein Arbeiter mit einer großen Baumfäll-Maschine durch die Reihen und sägt die Auserwählten ab.

Werden die Bäume knapp?

Keine zwei Sekunden braucht das Gerät für einen Baum. Kommt der Fahrer zu einer markierten Tanne, muss er nur einen Knopf drücken. Wie ein Kapitän navigiert er die Maschine durch das grüne Meer. Und das ist ganz schön groß: 250 Hektar Tannenbäume auf über 80 Feldern versorgen Dieter Rippel und seine Kollegen. Das ist eine Fläche so groß wie die Insel Helgoland.


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Doch seit einigen Monaten ist das Tannen-Meer nicht mehr ganz so grün. Vor allem auf den Feldern mit den frisch gepflanzten Bäumchen klaffen immer wieder große braune Stellen. Der Hitze-Sommer hat tagelange Arbeit verbrannt. "Von den Bäumen, die wir im Frühjahr gepflanzt haben, sind zwischen 20 000 und 30 000 Stück kaputtgegangen", seufzt Dieter Rippel. Große Auswirkungen wird das für das aktuelle Geschäft nicht haben, denn bis unter diesen Bäumen Geschenke liegen, wird es bis zu acht Jahren dauern. "Es wird jeder seinen Baum bekommen, wir sind mit einem blauen Auge davongekommen", so Rippel.

Mit einer Ausnahme: Da sich der Dünger auf dem trockenen Boden kaum aufgelöst hat, ist das Grün der Bäume in diesem Jahr etwas blass. In zwei bis drei Jahren zeigen sich die Auswirkungen gravierender. Wenn die jüngeren Generationen reif für das weihnachtliche Wohnzimmer sind, werden die Ausfälle deutlicher zu spüren sein, schätzt der Forsttechniker.

Arbeiter sind im Dauerstress

Zeit, sich über das, was in ein paar Jahren sein könnte, den Kopf zu zerbrechen, hat Dieter Rippel jetzt nicht. Er muss nun los: Regelmäßig fährt er mit seinem fast 20 Jahre alten Geländewagen zu seinen Feldern, um die Arbeiten zu kontrollieren. Sitzt er nicht hinter dem Lenkrad, klebt das Handy an seinem Ohr. "Wir müssen in dieser Woche 30 000 Bäume verladen und vom Hof bekommen, das ist eine logistische Herausforderung."

Und für die muss noch einiges getan werden. Die Arbeiter in den sonst so ruhigen Tannen-Wäldchen sind im Dauerstress. Zwei bis drei Tage müssen die frisch geschnittenen Bäume ruhen, dann werden sie auf die Schneisen zwischen den Reihen gezogen und eingenetzt. Bis zu 3000 Stück schafft die Maschine pro Tag – Fließbandarbeit mitten im Wald. Hinter den Einpackern ist bereits der nächste Trupp im Anmarsch. Sie verladen die Bäume mit Hilfe eines Förderbandes auf transportfertige Paletten, die auf dem Anhänger eines Traktors liegen.

Dieter Rippel muss weiter zum nächsten Feld. Während er vorne Preise überschlägt und Mitarbeiter koordiniert, lässt sich Moritz im Kofferraum genießerisch den Fahrtwind um die Nase wehen. Die Arbeit seines Herrchens ist auch ein Paradies für Moritz. Bei so vielen Stöckchen würde wohl jeder vierbeinige Konkurrent vor Neid erblassen. Doch nicht nur der Hund fühlt sich auf den Tannen-Feldern wohl.

Kritik nicht gerechtfertigt

Den Vorwurf von Umweltschützern, die Bäume jahrelang zu pflegen, um sie dann für wenige Wochen im Wohnzimmer stehen zu haben, sei nicht nachhaltig, will Rippel so nicht stehen lassen. "In unseren Bäumen nisten jährlich hunderte Vögel", erklärt er. Seine rund zwei Millionen Bäume auf 250 Hektar binden während ihrer bis zu zehn Jahre dauernden Wachstumszeit rund 36 000 Tonnen Kohlenstoffdioxid und produzieren gleichzeitig etwa 26 000 Tonnen Sauerstoff. Im Gegensatz zu Feldern mit beispielsweise Getreide habe der "Boden bei den Bäumen Ruhe und leistet so wertvolle Arbeit für den Natur-Haushalt", erklärt Rippel. Außerdem verwende sein Betrieb kaum Pestizide.

Das bedeutet aber auch: mehr Arbeit. Da das Wachstum nicht mit Chemie gestoppt wird, müssen die Baumspitzen regelmäßig mit einer Zange angeschnitten werden. "Damit verhindern wir, dass der Saft nach oben schießt und die Spitze weiterwächst", so Rippel. Schließlich wollen seine Kunden einen möglichst perfekten Baum – und der hat eine gerade und kurze Spitze.

Was ist der perfekte Baum?

Für die Anbauer ist es nicht so einfach herauszufinden, was die Menschen jedes Jahr am liebsten im Haus stehen haben möchten. "Sie sehen das oft mit ganz anderen Augen", sagt der Experte lachend. "Wenn wir Bäume mit dichten Ästen liefern, heißt es: Wie soll man denn da noch Kugeln dranhängen?" Auf eines können sich aber fast alle einigen: eine Nordmanntanne muss es sein. Sie ist der mit Abstand beliebteste Weihnachtsbaum der Deutschen. Warum eigentlich? "Sie ist schön buschig und hat ganz weiche Nadeln, die nicht stechen", erklärt Rippel. "Außerdem halten die Nadeln viel länger als bei anderen Sorten."

Mittlerweile ist es dunkel geworden auf den Feldern. Für die rund 100 Arbeiter aus Rumänien geht ein langer Tag langsam zu Ende, doch einen Höhepunkt gibt es noch: Als alle versammelt sind, rollt Rippel ein großes Bierfass in den Raum. Gute Mitarbeiter zu bekommen ist schwierig, weiß er. "Man muss den Leuten schon was bieten." Deshalb wollen die Geschäftsführer im nächsten Jahr auch ein eigenes Haus für die Saisonarbeiter, die momentan vor allem bei Verwandten im Ort untergebracht sind, bauen. Doch bis sich Rippel darüber Gedanken machen kann, werden noch einige Wochen vergehen. Bis zum 23. Dezember ist er im Einsatz: "An Weihnachten ist der Kopf noch so voll, da brauche ich erst einmal 14 Tage zum Runterfahren", sagt er.

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