1. August 1966: Großes Erlebnis: Flug und Spiel

1.8.2016, 07:00 Uhr
1. August 1966: Großes Erlebnis: Flug und Spiel

© Sartorius

In ihrem Gepäck: eine umstrittene Niederlage, kleine World-Cup-Willies aus Stoff, Papier und Plastik, eingerollte schwarz-rot-goldene Fahnen und ein Transparent, das von Schlaumeiern gleich so angelegt worden war, daß es auf jeden Fall stimmen mußte: „Nürnberg grüßt den Weltmeister.“

Die Blitzreise zum Londoner Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft hatte mitten in der Nacht begonnen. „Treffpunkt 4 Uhr Flughafenhalle Frankfurt, Sonderschalter rechts vom Eingang“, so hatte es hektographiert und nüchtern auf einem Mitteilungsblatt des Deutschen Reisebüros geheißen. Für die 34 Fußballfans aus Nürnberg und Umgebung bedeutete es: Aufstehen, noch bevor die anderen zu Bett gegangen waren.

Als der Tag katzengrau heraufzog, bestiegen sie die Chartermaschine, die sie nach London beförderte, von wo die Franken dann mit dem Bus direkt nach Wembley gebracht wurden. Schon eine dreiviertel Stunde nach dem Spiel heißt es wieder Abschied nehmen von London, einer Stadt, deren Sehenswürdigkeiten den Nürnberger Fußballfans wegen der Kürze der Zeit zum großen Teil vorenthalten blieben.

Mit Wetten den Flug finanziert

Alles in allem fünf Stunden Anreise, zehn Stunden Aufenthalt in der englischen Hauptstadt und wieder fünf Stunden Rückfahrt. Was sind das für Menschen, die für diese Strapazen auch noch mehrere hundert Mark bezahlen? Es gibt unter ihnen Leute, die erst in den letzten Wochen vom Weltmeisterschaftsfieber befallen worden sind. Aber die meisten sind doch echte Fußballfans, die auch dem Club nachreisen.

Junge Leute, die ein großes Fußballspiel nur ungern versäumen. „Ich habe durch verschiedene Wetten über den Ausgang der Weltmeisterschaftsspiele so viel Geld gewonnen, daß ich bequem die Flugreise davon bestreiten konnte“, meinte einer der Fahrtteilnehmer aus Fürth. Er hatte gleich seinen Nürnberger Arbeitskollegen mitgenommen. Für einen anderen war die Fahrt die erste Flugreise seines Lebens: „Ich weiß nicht, was größer war. Das Erlebnis des Flugs oder das Spiel in Wembley.“

Er bereut auf keinen Fall, die Chance ergriffen zu haben, die sich ihm bot, als beim Amtlichen Bayerischen Reisebüro in Nürnberg am Tag nach dem Vorschlußrundenspiel Deutschland – Sowjetunion (2:1) ein neues Kontingent von Eintrittskarten für das Finale eintraf. „Ich habe sofort zugegriffen. Noch gleich am Dienstagmorgen.“ Freudestrahlend sagte es einer auf dem Flug nach Luton. Am Dienstagnachmittag waren bereits alle Stadionkarten weg. Bedauernd mußte das Reisebüro viele Interessenten wegschicken.

„Ihr seid schöne Flaschen“

In Wembley hatten die 34 zunächst Glücklichen und dann – nach Spielende – Tieftraurigen einen ordentlichen Platz in der Kurve des Stadions. Von hier bot sich ihnen gute Sicht auf jenen gepflegten Rasen, auf dem sich die Niederlage der deutschen Fußballelf vollzog. „Vielleicht, wenn sie einen vom Club dabeigehabt hätten ...“, meinte einer, ein überzeugter Anhänger des 1.FCN. Als er nur Skepsis und Stirnrunzeln um sich herum bemerkte, setzte er eilfertig hinzu: „Ich hab´s ja nur im Spaß gemeint.

Auf dem Rückflug quälten ihn nicht länger Gedanken, was in Wembley geschehen wäre, wenn Strehl an Stelle Emmerichs im Feld gestanden hätte. Er schlief, wie die meisten der Mitpassagiere, die sich die Nacht zuvor um die Ohren geschlagen hatten. Noch im Halbschlaf stieg er in Frankfurt aus dem Flugzeug – um dann hellwach zu werden, als die Bodenstewardeß ihn und alle anderen Flugzeugpassagiere strafend von oben bis unten musterte und mit den Worten willkommen hieß: „Ihr seid schöne Flaschen. Ihr hättet viel lauter schreien müssen.“ Undank ist der Welt Lohn. Denn der Nürnberger und seine Mitstreiter hatten vom Spiel her noch ganz rauhe Kehlen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare