1. Mai 1965: Zwischen Ehe und Beruf

1.5.2015, 07:00 Uhr
1. Mai 1965: Zwischen Ehe und Beruf

© Gerardi

Frühjahrsdunst überm Rechenberg, morgens kurz nach 5 Uhr. Rings um die neuen Mietsblöcke noch frisch im Putz, aber auch merkwürdig anonym, ist es still. Da reißt Babette B., 27 Lenze jung, Fabrikarbeiterin und Mutter dreier Kinder, das erste Fenster ihrer Wohnung auf, breitet weit die Arme aus und denkt: „Nun geht es wieder los!“

Sie hört die Wecker in den Kinderzimmern rattern, rüttelt ihren Mann wach, springt ins Badezimmer und von dort in die Küche, um mit flinken Handgriffen ein paar Happen Brot zu richten, etwas Warmes zum Trinken hinzustellen und die „ganze Woar“ fertigzumachen, die für die gesamte Sippschaft zum Mitnehmen für den Alltag X bestimmt ist. Viele Überlegungen jagen durch den Kopf der gebürtigen Höchstadterin: was braucht heute der Jürgen alles in der Schule, die Petra im Hort und der Roland im Kindergarten? Ruck-zuck geht das Bettenmachen vonstatten, Blumengießen und Fensterschließen; die Kinder haben sich angezogen oder dabei geholfen, gekämmt und beschuht, fix und fertig zum Spurt in einen neuen Tag, stehen sie vor der Mutter. Sie sagt: „Gut so!“ winkt ihrem Mann und schon geht’s hinaus. Dann folgt der Abschied vor der Haustür: die Eltern gehen rechts herum zur Äußeren Sulzbacher Straße, die drei Kleinen, vom fürsorglichen „Senior“, dem elfjährigen Jürgen angeführt, zur Hardenbergstraße ins Viertel rings um die Bismarckschule. Man dreht sich noch öfter um . . .

1. Mai 1965: Zwischen Ehe und Beruf

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Ehemann Julius B., ein schweigsamer 35jähriger, Aquarienfreund und Hilfsarbeiter mit vielfältigen Talenten, lädt seine Frau in den Kleinstwagen ein, den sich die Familie leistete und fährt sie zur Arbeitsstätte in den Kleinreuther Weg. Sie haben beim Verabschieden keine Zeit für Sentimentalitäten, erstens liegen sie ihnen nicht und zweitens: Zeit ist Geld. Julius B. nickt nur kurz, dreht die „Karre“ um und braust zu seiner Fabrik in der Bucher Straße. Das harte Geldverdienen kann wieder beginnen.

Weniger „spannend“ verläuft der 8-Stunden-Tag; er ist eher grau und eintönig. Die junge Mutter Babette zieht ihren blauen Arbeitskittel an, schwingt sich auf einen metallenen Drehstuhl vor ihrer Fräsmaschine und fängt damit an, die haufenweise vorhandenen, gestanzten Führungsbuchsen für Schwachstrom-Kontrollampen abzudrehen. Die Spreu zischt vom „Weizen“, und die hellen Späne auf ihrem kleinen Maschinentisch sehen aus, als ob sie Schneeflocken wären. Jede Bewegung ist geübt; es gibt keinen Aufenthalt. Nur in der Mittagspause kann mit den Kolleginnen ein bißchen geplaudert werden. „Man hört mal etwas anderes“, sagt die 27jährige, „und da freut´s einen wieder, daß man nicht nur am häuslichen Herd stehen muß!“ Trotzdem birgt die vermeintliche Abwechslung, im Beruf mit dem „Leben“ verbunden zu sein, auf die Dauer etliche Gefahren: kommt die äußerlich kraftstrotzende Babette gegen 17 Uhr heim, entspannt sie sich nicht, sondern setzt den Temporhythmus fort. Die „Schlüsselkinder“ sind aus Hort und Kindergarten zurück, haben Hunger, große fragende Augen und – soviel zu erzählen. Aus den vollen Taschen werden die Zutaten für das Essen ausgekippt und „auf die Schnelle“ zubereitet. Mutter B. faßt sich dabei oft an den Kopf: „Müd´ bin ich!“, sagt sie, „aber zeig´ mir nur, Petra, ob du diesmal „Borsten“ und „Bürsten“ in deinem Heft richtig geschrieben hast!“

Unruhe bis 20 Uhr

Bis 20 Uhr hält das „G´wärch“ in der adretten Neubauwohnung an. Dann sind die Kinder im Bett. Aber Babette muß ohne Rücksicht auf sich selbst weiterwurschteln: kehren, putzen, abspülen, aufräumen, nähen, flicken, Hausordnung verrichten . . . Wenn dann immer noch nicht „Sendeschluß“ auf dem Bildschirm flimmert, setzt sie sich vor den Fernsehapparat, sieht aber unkonzentriert auf die Scheibe, denn, so überlegt sie sich, „was ist nur morgen wieder alles fällig?“ Der Ehemann raucht nebendran seine selbstgedrehten Zigaretten. Er hat seine Zierfische, zwei piepsende Exoten und die treue Schildkröte gefüttert („Das ist mein Ausgleich!“ sagt er) und beobachtet den Umtrieb, den seine Frau hat, mit Gelassenheit. Als wir sie fragten, ob sie denn diesen aufreibenden Alltagskampf ohne gesundheitlichen Schaden schaffen könnte, antwortet er: „Sie ist doch mollig genug!“

1. Mai 1965: Zwischen Ehe und Beruf

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Das häufigste Motiv dafür, daß ein Frau und Mutter das Abenteuer eines Nebenberufes auf sich nimmt, ist die finanzielle Lage. Das Haushaltsbudget reicht nicht aus – auch in der Familie B. „Vor einem Jahr sind wir in diese Vier-Zimmer-Wohnung eingezogen, obwohl wir nur drei Zimmer wollten!“ erklärt die Mutter, „und weil die Miete 227 DM beträgt – der Zuschuß nur 4,50 DM – muß ich eben mitverdienen. Ich bin aber jetzt noch knapper dran als damals“, fügt sie hinzu, „als wir beengt in einem Altbau beim Flughafen für 50 DM Miete lebten und ich nicht erwerbstätig war!“

Manchmal um elf Uhr abends, oft auch um 1 Uhr nachts macht Frau B. die Augen zu. Sie schläft einen kurzen Schlaf. Noch im Traum trachtet sie danach, ihre Familie im Gleichgewicht zu halten. An sich selber denkt sie nicht, eher noch an den Inhalt der wieder zu erwartenden Lohntüte – und damit reiht sie sich in das Heer von Frauen, die einen meist zwischen 300 und 600 DM ausmachenden Bruttoverdienst für zwingend notwendig erachten, um am „Wohlstandstaat“ zu partizipieren.

Nicht zu den 605.406 Frauen (36,1 v. H. der insgesamt 1.679.265 Beschäftigten) in Nordbayern zählt die 35jährige Frau Grete R. in Laufamholz. Sie ist „Nur“-Hausfrau und Mutter von zwei Kindern, und sie hat einen Ehemann, der es sich nicht nur leisten kann, sondern der es auch wünscht, daß seine Frau daheim bleibt. Aber auch an ihr, die ohne weiteres einen Zwölf-Stunden-Alltag zusammenbringt, hängt alles. Wohl und Wehe der Familie ranken sich um sie, aber tüchtig, vernünftig und weiterdenkend wie sie ist, schafft sie ihr Programm mit Bravour. Es schließt den einjährigen Zappelpeter Gerhard ebenso ein wie den fünf Jahre alten Thomas und „ihren Erich“, den Familienvorstand.

Zu keiner Minute gönnt sich Frau Grete ein bißchen Ruhe. „Das klappt nie oder kaum“, sagt sie, denn um 7 Uhr früh muß der Kleinste gefüttert und gewickelt werden. Erst eine Stunde später, wenn der die Brötchen verdienende Mann den Motor anläßt, um seinen Verkaufsgeschäften nachzugehen, setzt sich die Behüterin des gemeinsamen Heimes hin, um mit ihrem Thomas zu frühstücken – nicht lange, denn die Hausarbeit drängt. Die Betten müssen an die frische Luft, die Zimmer gesäubert werden – und Hunger hat die ganze Gesellschaft auch. Also wird eingekauft, während Rußle „Troll“ bellend das Haus hütet. Kaum zurück, beginnt die „ewige Kocherei“, und Thomas will mit seiner Mutter „Cowboy“ spielen. „Freilich kann ich mir so manches Intermezzo leisten“, sagt Grete R., „aber ich muß auch immer wieder rein ins Geschirr!“ Abspülen, Extrakochen, Füttern, den Kleinen ins Bett bringen, dann aber Wäsche waschen, sie im Garten aufhängen, nachmittags erneut einkaufen, Kleidungsstücke für die Kinder nähen oder ausbessern – da geht die Zeit im Fluge hin. Und wenn es kurz nach 7 Uhr abends ist und die Rasselbande im Bett liegt, darf und will die 35jährige noch längst nicht schachmatt sein. Jetzt erwartet sie interessante Schilderungen vom Tagesablauf ihres Mannes oder freut sich auf einen Besuch, der ihr einen „Kulissenwechel“ beschert; sie liest oder schaut ebenfalls in die Flimmerkiste.

Sechs Jahre gearbeitet

Mit 24 Jahren hat Frau R. geheiratet, aber noch sechs Jahre lang als kaufmännische Angestellte weitergearbeitet. Als Thomas kam, blieb sie zu Hause. Benjamin Gerhard gesellte sich inzwischen dazu, und nun ist – günstige Umstände ermöglichen es – das Schicksal besiegelt: die Mutter ist ihrem alten Kollegenkreis entrückt, obwohl sie noch hie und da Kontakt mit ihm hat, und hält nun die Fäden, die sich rund um die Familie winden, so gut wie allein in der Hand. Dabei kann sie ihre Zeit nach Gutdünken einteilen und so manches „Zubehör“ selbst erledigen: kostspielige Dienstleistungen durch Fremde fallen aus. „Arbeiten, um Geld zu verdienen, kostet nämlich Geld“, sagt Frau Grete, „dabei denke ich zunächst nur einmal an die Garderobe!“

Aber Milchmädchenrechnung hin und her: von rund 470.000 Einwohnern in Nürnberg sind 252.313 weiblichen Geschlechts (Stand Februar 1965). Rund 40.000 Kinder (Mädchen bis zu 15 Jahren) abgerechnet, sind etwa 210.000 Jugendliche und Erwachsene übrig. Gut die Hälfte steht im Arbeitsprozeß, mehr oder minder vom Sinn des Geldverdienens überzeugt. Aber es gibt hundert Gründe dafür, daß Frauen selbst mit in die Speichen greifen, entweder, um durchzukommen oder um des Wirtschaftswunders persönlich teilhaftig zu werden.

Die arbeitenden Frauen können zum 1. Mai und zur 15. Jahrestagung des Deutschen Müttergenesungswerkes immerhin eines auf ihr Banner schreiben: Ihnen gilt ein starkes soziales Interesse. Fertig werden muß allerdings jeder mit sich selbst.

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