1. November 1966: "Er streckt seine Hand über alles"

1.11.2016, 07:00 Uhr
1. November 1966:

© Gerardi

Sie war nach dem Thesenanschlag von Martin Luther am 31. Oktober 1517 in Wittenberg auch in der alten freien Reichsstadt zu einer wahren Volksbewegung geworden. In den beiden Gotteshäusern, in denen sich vor über 400 Jahren vornehmlich das geistige Ringen abgespielt hat, war gestern abend schon eine halbe Stunde vor Beginn kein Sitzplatz mehr zu finden.

1. November 1966:

© Gerardi

Sicherlich "zog" vor allem der Redner: der Hamburger Professor D. Dr. Helmut Thielicke, der zu den bekanntesten deutschen Theologen der Gegenwart zählt und dessen Wort von suchenden Menschen auch außerhalb der engen Kirchenmauern beachtet wird. Doch mag auch das Thema "Wie der Glaube beginnt" viele Besucher angelockt haben, denn mancher möchte in dieser oft als so gleichgültig verschrienen Zeit gern glauben, kann es dann aber aus allerlei Gründen doch nicht.

"In der Reformation ging es um den Glauben – um nichts anderes", mit diesem Satz in seiner Begrüßungsansprache wollte Dekan Kirchenrat Fritz Kelber begründen, warum gerade ein solches "zentrales Thema" ausgesucht worden war. Nun, der große Hamburger Professor wollte es den Reformatoren nachtun und machte sich daran, einen biblischen Text auszulegen: Die Geschichte vom Christus-Bekenntnis des Jünger Petrus bei Cäsarea Philippi, das in der römischen Interpretation zur Untermauerung des Papsttums eine so entscheidende Rolle gespielt hat.

Aber Thielicke hielt sich bei den interkonfessionellen Streitfragen gar nicht auf, sondern beschäftigte sich damit, für wen seine eigenen Zeitgenossen diesen Jesus von Nazareth gehalten hätten. Dabei stellte er fest, daß alle Antworten, die kürzlich in einer Artikelserie eines deutschen Nachrichtenmagazins gegeben worden seien, schon im Neuen Testament enthalten sind – vom "umstürzenden Weltrevolutionär" bis zum „Vertreter höchster Menschlichkeit“. Sämtliche Möglichkeiten des falschen Verständnisses der Gestalt Christi seien im Laufe von zwei Jahrtausenden christlicher Geschichte praktiziert worden.

Kernfragen des Glaubens

Inmitten aller Mißverständnisse müsse auch heute der Satz gelten: "Die christliche Kirche wird zu allen Zeiten davon leben, daß sie hinter der Gestalt des Jesus von Nazareth Gott selber zu sehen vermag, der seine Hand über den Erdkreis – über Ost und West – streckt – auch über Gipfelkonferenzen der Großen, obwohl sie nicht nach ihm fragen, über Elektronengehirne und über Spatzen, über Raketen und Rosen."

Mitten in der Wohlstandsvöllerei, in der auch Christen zu vergessen schienen, "daß Gott beim verblendeten Tanz um das goldene Kalb noch einmal als Rächer herabfahren könne", lebe die Kirche nicht von ihren Institutionen, sondern nur davon, daß Menschen "immer wieder das Wunder durchleben, hinter der armseligen äußeren Gestalt die Herrlichkeit Jesu Christi zu entdecken."

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