18. Juni 1965: Kein Platz für Berliner Kinder

18.6.2015, 07:00 Uhr
18. Juni 1965: Kein Platz für Berliner Kinder

© Ulrich

Ihr Aufruf vom 1. Mai mit der Bitte an die Nürnberger Bevölkerung, wieder private Ferienplätze bereitzustellen, blieb ohne Echo. Keine der rund 130 000 Familien in der Stadt will einige Wochen lang einen Buben oder ein Mädchen aus der Inselstadt bei sich zu Gast haben. Die Herzen sind träge geworden. Von dieser sehr nachdenklich stimmenden Lethargie war noch vor wenigen Jahren nichts zu spüren. 1959 gab es spontan 226 Freiplätze. Den „Jroßstadtjören“ war mit amerikanischer Blasmusik auf dem Hauptbahnhof ein großartiger Empfang bereitet worden.

Freilich ist seitdem in der alten Reichshauptstadt vieles getan worden. Aus dem Boden wuchsen neue Wohnviertel. Es entstanden großzügige Grünanlagen, weil die Bevölkerung ihre Wochenenderholung im Steinmeer der Millionenstadt suchen muß und nicht – wie die Nürnberger in der Fränkischen Schweiz – hinausfahren kann. Die neuen Viertel Berlins, dessen Menschen seit fast vier Jahren obendrein die Belastung durch die Mauer ertragen müssen, atmen den Willen zur Freiheit.

Aber es gibt auch noch Viertel mit engen, lichtlosen Hinterhöfen, auf denen die Kinder spielen müssen. Noch immer möchten viele tausend junge Berliner hinaus aus der Enge, in der sie das ganze Jahr über eingesperrt sind. Sie drängen nach den „Plätzen an der Sonne“, weil ihre Sonntagsausflüge im besten Fall an den Wannsee oder in den Grunewald führen, wo sich die Erholungssuchenden wie die Heringe in einer Konservendose drängen. Die Franken und Nürnberger, die in den vergangenen Jahren junge „Spree-Athener“ bei sich zu Gast hatten, wissen von der Freude und dem Spaß, die solche Kinder ins Haus bringen können. Sie erinnern sich vielleicht der erstaunten Gesichter ihrer Schützlinge, wenn sie einer Kuh begegnet sind. „Es gibt in den Arbeitervierteln tatsächlich noch Kinder, die glauben, daß die Milch in der Fabrik hergestellt wird“, erklärt der 2. Vorsitzende des Bundes der Berliner, Werner Preßmann, der auch die Klagen vereinzelter Gasteltern kennt, aber davor warnt, solche Vorfälle zu verallgemeinern.

Zu den Nürnbergern, die viel Freude mit ihrem Insulaner hatten, gehört der Passageleiter der Swissair, Horst Krüger: „Unser Horst“ – er kam aus dem Arbeiterviertel Wedding – „war ein richtiger Lausejunge, ein Berliner, wie man sich ihn vorstellt.“ Dem damals Achtjährigen gefiel es gut in Nürnberg. Beim Abschied weinte er herzzerbrechend. „Er wollte nicht wieder weg. Das hat uns – vor allem meiner Frau – sehr weh getan“, erzählt Horst Krüger, der niemals mehr von seinem damaligen Schützling gehört hat.

Horst Krüger hätte gern wieder ein Ferienkind aufgenommen, aber die Gesundheit seiner Frau ließ das nicht zu. Er hätte sich auch davon nicht abhalten lassen, weil das Finanzamt hinterher seine direkten Leistungen für das Ferienkind nicht von der Steuer absetzte; auch daß er im Gegenteil später den Bescheid erhielt, die Aufwendungen, wären angerechnet worden, hätte er den Betrag auf ein Spendenkonto gezahlt.

Mit seinem einstigen Ferienkind und dessen Eltern verbinden den Nürnberger Tankstellenbesitzer Josef Fuchs herzliche Kontakte. 1960 hatte der damals zwölfjährige Roland aus Reinickendorf die Gastfreundschaft genossen und eine gemeinschaftliche Reise durch Tirol miterlebt. Der junge Gast dankte später mit schriftlichen Grüßen: zum Geburtstag, zu Neujahr, zu Weihnachten, zu Ostern und – zuletzt – zu Pfingsten 1965. „Ich bin der Onkel Seppl und meine Frau ist die Tante“, erklärte Josef Fuchs, der längst die Eltern und die Großeltern seines einstigen Gastes bei gegenseitigen Besuchen kennengelernt hat.

Vielleicht mag nun doch das eine oder andere Familienoberhaupt seinem Herzen einen Stoß geben und einen Freiplatz melden, damit heuer 40 000 Kinder unbeschwerte Ferien abseits von Mauer und Stacheldraht verbringen können. Die Menschen in der geteilten Stadt haben nämlich schon viele Worte der Verbundenheit gehört. Taten sind ihnen sicher lieber.

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