10. September 1966: Tag und Nacht rattern Räder

10.9.2016, 07:00 Uhr
10. September 1966: Tag und Nacht rattern Räder

© Ulrich

Täglich bringen rund 600 Züge Zehntausende Menschen in die alte Reichsstadt oder entführen sie in die weite Welt. Die brave Dampflok wird zwar immer mehr von bulligen E-Loks verdrängt, aber die Atmosphäre auf den Bahnhöfen bleibt immer gleich: hastende und wartende Menschen – Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude.

Gerade jetzt herrscht auf dem Hauptbahnhof Hochbetrieb. Kinder kommen aus den Ferienlagern, Familien aus dem wohlverdienten Urlaub zurück. "Spätzünder" fahren in diesen Wochen erst ins Gebirge, an die See und, soweit der Geldbeutel groß genug ist, in ferne Länder. Unter sie mischen sich die vielen Angestellten und Arbeiter, die in der Großstadt ihr tägliches Brot verdienen müssen.

"Achtung!“ Auf Gleis 14 fährt ein der fahrplanmäßige D-Zug aus Stuttgart. Weiterfahrt um11:10 Uhr nach Prag über Marktredwitz und Schirnding. Bitte, Vorsicht am Bahnsteig!“ Immer neue Züge werden angekündigt und verabschiedet. Der Stuttgart-Prag-Expreß rollt auf die Minute wieder aus dem Bahnhof. Für die Reisenden ist das eine Selbstverständlichkeit. Sie sind gewohnt, daß die Eisenbahn sie pünktlich an das gewünschte Ziel bringt. Wann zerbricht sich schon einmal jemand den Kopf darüber, welcher Aufwand dafür getrieben werden muß und wie scharf die Pläne und Fahrzeiten zu kalkulieren sind.

10. September 1966: Tag und Nacht rattern Räder

© Ulrich

Um so beachtlicher ist der hohe Pünktlichkeitsgrad des nordbayerischen Eisenbahnknotenpunktes. Zuletzt wurde eine Durchschnittsverspätung von 0,24 Minuten errechnet – ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. "Wir haben ein gut eingespieltes Personal, das von sich aus bestrebt ist, Verspätungen zu vermeiden“, lobt denn auch der Vorstand des Hauptbahnhofs, Oberamtmann Emil Hecht.

Tatsächlich ist es schon ein kleines Kunststück, die unzähligen Weichen auf dem weiten Bahnhofsgelände immer so zu stellen, daß der Verkehr reibungslos abgewickelt werden kann, denn täglich kommen – wie ein Blick in die Statistik beweist – 250 Züge an und genauso viele gehen ab. Für 100 weitere ist Nürnberg nur Zwischenstation. Der Hauptbahnhof gehört damit zu den acht größten in Deutschland. In Bayern sind nur die Münchener Schienen noch stärker befahren.

Hauptbahnhof, 5.30 Uhr. Mit einem Schlag beginnt der Ansturm auf Nürnberg, der zwischen 6 und 8 Uhr seinen Höhepunkt erreicht. Pausenlos rollen die Züge an und bleiben mit quietschenden Bremsen stehen. Die Frauen und Männer, die wie die Ameisen aus den Abteilen strömen, haben für die Umwelt keinen Blick übrig; die Lautsprecheransagen sind für sie längst zur Gewohnheit geworden.

Kleidung, Aktentasche oder Beutel weisen sie als jene Leute aus, die in Nürnberg ihr Brot verdienen müssen. Wortkarg und noch halb verschlafen hasten sie den Ausgängen zu. Wenn um 8 Uhr der letzte von 49 Zügen im Berufsverkehr eingefahren ist, dann beherbergt die Stadt für ein paar Stunden 33.000 Menschen mehr in ihren Mauern. Dasselbe Bild bietet sich dem Beschauer am Abend um 17 Uhr. Nur daß die Armee der Angestellten und Arbeiter jetzt den Bahnsteigen zustrebt. Man ahnt förmlich ihre Gedanken: Nur nicht zu spät kommen. Jeder verpaßte Zug ginge auf Kosten des bei Pendlern ohnehin knapp bemessenen Feierabends.

Um 9 Uhr wandelt sich das Bild auf dem Bahnsteigen. In den folgenden Stunden beherrscht der Reisende eindeutig das Geschehen. Vor allem die Fernschnellzüge mit den phantasievollen Namen wie "Rheinpfeil“, "Gambrinus“, "Donau-Kurier“, "Hans-Sachs“ und "Alpensee-Expreß“ bringen einen Hauch der großen weiten Welt nach Nürnberg und die Leute in kurzer Zeit an Ziele, von denen aus sie Anschluß nach weltbekannten Städten wie Malmö, Wien, Kopenhagen, Rom, Straßburg, Paris und Amsterdam haben.

Während sich die Reisenden schnell die Füße vertreten, sich auf die neuesten Zeitungen oder die Erfrischungsstände stürzen, gehen Bundesbahnbedienstete mit ihrem bekannten Hämmerchen die Waggons ab und in der Betriebsüberwachung, dem „Gehirn“ eines jeden Bahnhofs, wird geprüft, ob das Signal auf freie Fahrt gestellt werden kann. Und dann, wie ein Spuk, ist der Fern-D-Zug auch schon wieder verschwunden, braust er mit weit über 100 Kilometern in der Stunde durch die Landschaft.

Guter Eindruck der Tschechen

Einer der interessantesten Züge ist der Fern-Expreß Prag-Stuttgart. Die vielen Tschechen, die heute wieder zu uns kommen dürfen, beweisen, daß Deutschland und die benachbarte CSSR 21 Jahre nach dem Krieg wieder etwas näher zusammengerückt sind. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, daß heute Eger, Pilsen und Prag auf den Hinweisschildern eben Cheb, Plzen und Praha heißen. Der internationale Eisenbahnverkehr schreibt dies vor. Auffällig, wie gut die Tschechen sich kleiden, daß die Mädchen noch immer so adrett und hübsch sind, wie man ihnen das von jeher nachgesagt hat, und wieviel Gepäck sie mit sich führen. Ein Gleis weiter, auf dem der Interzonenzug nach Probstzella steht, ist von diesem gediegenen Wohlstand wenig zu merken. Wäre das Kapitel nicht so traurig, lüde der Gepäckwagen direkt zum Tanzen ein, so gähnend leer ist er.

10. September 1966: Tag und Nacht rattern Räder

© Ulrich

Pünktlich um 11.10 Uhr setzt sich der Prag-Expreß in Bewegung, und hier sowie bei den Interzonenzügen rinnen die meisten Tränen. Fast trotzig ruft eine Frau, die einen Tschechen geheiratet und jetzt zum ersten Mal ihre Eltern, Sudetendeutsche, besucht hat, aus dem Fenster: "Und im nächsten Jahr komme ich wieder, Mamutschka.“

Als vom letzten Wagen des Zuges nur noch die Schlußlichter zu sehen sind, keucht ein junger Tscheche mit seinem Koffer die Treppen zum Bahnsteig herauf. Zu spät. "Der ist ja überpünktlich und sogar zu früh gefahren. Wegen der paar Minuten muß ich jetzt vielleicht für Monate ins Gefängnis“, stammelt er verstört. Bahnbeamte verhelfen ihm zu der Möglichkeit, wenigstens an diesem Tag noch bis Schirnding zu kommen. Für den Tschechen ist dies bitter nötig. Seine Ausreisegenehmigung läuft nämlich in der Nacht ab. Wenn er Glück hat, kann er mit einem Taxi noch rechtzeitig nach Eger fahren.

Mit den Zügen verlassen auch viele Nürnberger Begleiter für viele Stunden die Stadt. Sie kommen dabei bis Dortmund, Hannover, Stuttgart und Probstzella. Mehr als jeder andere, der eine Reise macht, können sie erzählen. "Der Kontakt zu den Kollegen in der Zone ist denkbar schlecht. Sagen wir ‚Guten Tag‛, erwidern sie aus reiner Opposition bestimmt ‚Grüß Gott‛, oder umgekehrt“, berichtet ein Zugführer, der im Monat mehrere Male nach Probstzella kommt. Allerdings ständen die Eisenbahner unter dauernder Bewachung von Volkspolizisten.

"Bevor die Eisenbahngarnitur der Deutschen Bundesbahn mit ihrem Personal die Rückreise antritt, werden die Waggons von ostzonalen Leutnants, die scharfe Hunde an der Leine führen, gefilzt. Die Chancen, mit diesem Zug in den Westen zu fliehen, stehen 1 zu 1.000“, meint der Zugführer.

Währenddessen dreht sich das Karussell in der Heimat munter weiter. Viele Dinge am Rande, die der Reisende kaum bemerkt, beweisen, wie ausgeklügelt der gesamte Fahrbetrieb ist. Arbeitet beispielsweise ein Eisenbahner in einem Gepäckwagen, dann hißt er eine gelbe Flagge. Für den Lokführer bedeutet das: Vorsicht beim Rangieren. Beim Vorbeifahren an einer nicht einsehbaren Stelle wird automatisch ein knarrendes Horn ausgelöst, das alle warnt, nicht die Gleise zu überqueren.

Von Mitternacht an bis 5.30 Uhr schaltet dann auch der Hauptbahnhof etwas auf Sparflamme. Die Abstände der Züge, die ankommen oder Nürnberg verlassen, werden vorübergehend merklich länger. Trotzdem schläft der Bahnhof auch da nicht. Hier wird die Zeit genutzt, ein Gleis auszuwechseln, dort eine Weiche zu prüfen. In den frühen Morgenstunden wiederholt sich dann dasselbe Bild.

Vielleicht weicht die eine oder andere Abschiedsszene um Nuancen von der vom Vortag ab, ist eine Wiedersehensfreude besonders tief. Das ändert aber alles nichts an der Atmosphäre, die seit den frühen Anfängen der Eisenbahn auf den Bahnhöfen herrscht.

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