12. Juni 1965: Der Weiße Turm und die Junggesellen

12.6.2015, 07:00 Uhr
12. Juni 1965: Der Weiße Turm und die Junggesellen

© Gerardi

Doch Bernhard Krüger wandert noch immer mit den Besucherscharen durch die Kirchen, Kapellen und Bürgerhäuser, über die Kirchhöfe und entlang der Stadtmauer – das seit genau zwölf Jahren. Mittlerweile ist das Berliner Original ein fester Bestandteil nicht nur unserer Zeitung – in deren Spalten er als „B. K.“ über lokale Ereignisse berichtet –, sondern auch der Stadt Nürnberg. Und als solcher soll er heute selbst einmal zu Wort kommen. Er hat einige „Tatsachen“ zu erzählen.

„Es ist eine Lust, in Nürnberg Fremdenführer zu sein“, ruft Bernhard Krüger freudig aus. „Die Stadt ist so schön und besitzt der Sehenswürdigkeiten so viele, daß ich nie um Erzählstoff verlegen bin.“ Doch er setzt gleich hinzu, daß sich dies Erzählen keineswegs in Gerüchte spannen. „Jahrelang erklärte ein Fremdenführer die Bronzegußröhren am Brunnen als ,ehemalige Geschützrohre aus dem Dreißigjährigen Krieg´“ und den Brunnen selber als ,die abgesägte Kirchturmspitze der Frauenkirche´.“ Der Weiße Turm verdanke sein Aussehen dem Umstand, daß die Nürnberger Jungfrauen ihn alljährlich mit den ausgerissenen Barthaaren der Nürnberger Junggesellen weiß anstreichen mußten. „All´ das wurde tatsächlich geglaubt!“

Früher nur „Hauptamtliche“

Bis vor zwölf Jahren gab es nur hauptamtliche Fremdenführer, die sich ihren Kunden meist am Hauptmarkt vorstellten und sie zu Fuß stundenlang durch die im Sommer glühendheiße Altstadt schleppten. Der frühere Verkehrsdirektor Franz Scharrer änderte das. Er suchte sich Leute mit Geschichtskenntnissen, mit Liebe zur „guten, alten Noris“ und freundlichen Umgangsformen, die der Fremdenführerei nur nebenberuflich und aus Liebe zur Sache nachgehen. Und so schlug Bernhard Krügers große Stunde. Im Anfang nahm er sich der Sonderzüge voller Betriebsausflügler an, die in den Hauptbahnhof rollten. Was er dabei erlebte, betrübt ihn noch heute: „An der Lorenzkirche war die Gruppe, die ich vierzig Köpfe stark in Empfang genommen hatte, bereits auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Auf dem Hauptmarkt waren es nur noch zehn, und die wünschten sich nicht mehr als den nächsten schattigen Wirtshausgarten und ein kühles Helles!“ Was blieb dem Fremdenführer anderes übrig, als den Weg dorthin zu erklären und mitzumarschieren?

Doch es konnte auch anders kommen: „Eines Tages sagte sich eine Gruppe von Ölkaufleuten an und bestellte einen Führer mit gründlichen Kenntnissen. Man verfiel auf mich. Ich stellte fest, daß der Leiter adliger Herkunft war und einen Namen trug, der mir bekannt erschien. Und dann konnte ich ihn verblüffen: ich erzählte ihm haarklein, daß einer seiner Ahnen als Stadthauptmann und Schreiber im Unschlitthaus gewirkt habe, auf dem Johannisfriedhof begraben sei und daß die Stadtbibliothek ein Bildnis des hohen Herren besitze. Mehr wußte der adlige Ölkaufmann von seinen Vorfahren auch nicht!“ sagt Krüger stolz. Seine gründlichen Kenntnisse haben ihm aber nicht nur ein Lob, sondern reichlich bares Geld eingetragen, so dankbar war der Nachfahr des Stadthauptmannes.

Als die dankbarsten Fremden bezeichnet Bernhard Krüger die Amerikaner. „Es ist zwar eine harte Sache, ihnen den Unterschied zwischen Hohenzollern und Hohenstaufen zu erklären, und daß beim Männleinlaufen nicht die zwölf Apostel, sondern die sieben Kurfürsten erscheinen, erfüllt sie mit tiefer Trauer. Aber sie freuen sich wie die Kinder, wenn sie die ,Wöhrder Störche´ sehen – denn in Amerika gibt es keine!“

So gehört der Gang zum Nest von „Gretel“ und ihrem jeweiligen Storchenherrn zum festen Bestandteil einer Krügerschen Besichtigungstour. „Wenn sie die beiden gesehen haben, glauben sie mir sogar, daß es in Franken schwarze Störche gibt“, schwärmt der Fremdenführer. Überraschende Folgen aber hatte das Zusammentreffen der Störche mit einer amerikanischen Professorengattin nebst Töchtern. Die Damen, bis dahin mehr als zurückhaltend in ihren Begeisterungsausbrüchen über Nürnberger Sehenswürdigkeiten, gerieten beim Anblick der Tiere in Entzücken und schickten Bernhard Krüger, der ihnen die Bekanntschaft dieser für sie seltsamen Vögel vermittelt hatte, vier Jahre hintereinander Weihnachtsgrüße aus New York. „So lange scheint das Erlebnis vorgehalten zu haben!“

„Es ist ein stiller Ruhm, den man sich als Nürnberger Fremdenführer erwerben kann“, sinniert der Jubilar. Von den Honoraren könnte niemand hauptberuflich leben, und vielleicht solle das auch so sein. Aber es fallen auch manchmal Orden dabei ab – versprochen hat man sie ihm jedenfalls schon, nur sind sie noch nicht eingetroffen. „Ich saß mit den Parlamentariern eines afrikanischen Staates bei den Bratwürsten, die jedem Gast gereicht werden“, erzählt B. K. „In der Tasche hatte ich schöne braune Kastanien, die ich einem der schwarzen Parlamentarier zeigte. Dabei erklärte ich ihm den volkstümlichen Brauch: man müsse die Kastanien den Winter über in der Hosentasche tragen, dann ließe einen der Rheumatismus in Ruhe. Damit hatte ich was angerichtet! Der Mann aus Afrika sagte, auch er leide an dieser Krankheit, und ob er eine Kastanie haben dürfe. Ich gab ihm gleich drei, weil ich 15 in der Tasche hatte. Der Besucher bedankte sich mit einiger Überschwenglichkeit und tuschelte mit seinem Nachbarn. Der wollte auch Kastanien und bekam sie sofort. Wieder Tuscheln – dessen Nachbar hatte auch Rheumatismus und bekam die braunen Dinger. Schließlich waren die letzten aus meiner Hosentasche verschenkt und ich durfte einem rheumagequälten Winter entgegensehen. Doch was viel schlimmer war: ich hatte ahnungslos einen politischen Fehler begangen. Der neue afrikanische Staat ist nämlich zweisprachig, selbst die Parlamentarierergruppe war gespalten. Eine Gruppe hielt es mit der deutschen Kolonialvergangenheit und der deutschen Sprache, die andere war französisch orientiert.

Als plötzlich einer von der „anderen“ Gruppe zu mir kam und höflich um Rheumakastanien bat, hörte ich deutlich den Unterton leisen Vorwurfs. Ich hatte bislang nur deutschsprachige Bittsteller beliefert. Ich fühlte in den Taschen – keine einzige Kastanie mehr! Ausgerechnet jetzt – im Geist sah ich schon einen Bürgerkrieg wegen der braunen Früchte entbrennen. Da half nur rasche Tat – ich warf mich in ein Taxi, riß daheim die Schreibtischschublade auf, in der meine Tochter ganze Vorratshügel von Kastanien angehäuft hatte, griff mir zwei Hände voll heraus und fuhr zurück zu meinen Freunden. Jetzt kamen die „Franzosen“ an die Reihe, jeder kriegte drei. Fürs Reißen im heißen Afrika. Ich fühlte mich wie ein Medizinmann. Und da geschah´s: einer der Parlamentarier kam auf mich zu, erbat flüsternd meine Adresse und sagte: „,Pour Tordre de mérité´. Auf gut deutsch: Für einen Verdienstorden!“

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