17. August 1965: 33 Erhards begrüßten den Kanzler

17.8.2015, 07:00 Uhr
17. August 1965: 33 Erhards begrüßten den Kanzler

© Wolkenstörfer

Heute heischt Erhard nach Beifall. Auf seiner Wahlreise durch Unterfranken berührt er das schmucke, 1.200-Seelen-Dorf. 30 Minuten lang macht er Station an dem Ort, der sich festlich herausgeputzt hat, der den Kanzler mit Pauken und Trompeten empfängt, als einen der ihrigen. Seit 8 Uhr früh drängen sich in der Wirtsstube die Männer, denn dieser Montag ist für die ganze Umgebung Feiertag, trotz der Ernte, die eingeholt werden muß. Über den Straßen wehen Girlanden im Morgenwind, von allen Fenstern grüßen Fahnen, als sei Fronleichnamsprozession. Hochwürden hält schon eine Stunde vor der Ankunft des Kanzlers Wacht vor der Bonifatiuskirche, vor der das Mikrophon aufgebaut ist.

In der Gaststube „Zum Raben“ aber erzählt die Wirtin erinnerungsselig, wie vor etlichen 40 Jahren der Lulo als Student alljährlich in einem der drei Fremdenzimmer wohnte, wie trotz der immer noch vorhandenen 33 Erhards keiner von ihnen unmittelbar mit dem Kanzler verwandt ist, wie eben nur die Agnes Kiesl und die Maria Müller echte Kusinen des Regierungschefs sind, wie der Lulo einst auf Kühen geritten ist. Noch heute ist Rannungen im ganzen unterfränkischen Raum bekannt für seine Qualitätsbullen. Und das Dorf rüstet für den Mann, dem seine Gegner vorwerfen, er sei zu wenig bullig für sein Regierungsamt.

„Siehste wohl da kimmt er“, intoniert das CDU-Tonband – die Feuerwehrkapelle fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen – als des Kanzlers Kolonne, geführt von einem grünen Polizei-BMW, einbiegt. Die Schulkinder, in ihren Kommunionsgewändern, schwenken ihre weißblauen und schwarzrotgoldenen Fähnchen, stimmen ein piepsendes Hurra an: Drinnen im „Raben“ wirft einer der Erhrads sein viertes Bier und sich selbst eine grünweiße Scherpe um, denn er ist Fahnenträger des Schützenvereins. Und er stürmt hinaus. Im Nu ist die Wirtsstube leer. Nur einer bleibt hocken. „Wissen Sie, ich bin der einzige Sozi weit und breit.“ Und er bestellt noch einmal ein Bier. Aber er bekommt keines, denn auch der Wirt ist fort.

Draußen brandet der Jubel auf. „ich bin ein Rannunger“, hat der Kanzler soeben verkündet, genauso wie der Kennedy damals in Berlin. Dann sagt er noch: „Ich sollte jetzt eine Wahlrede halten, aber ich denke nicht daran.“ Und dann noch ein paar Sätze über den deutschen Bauern, wie schwer dieser es und wieviel Verständnis er für denselben hat. Dann gibt’s noch eine Urkunde. Erhard revanchiert sich mit einem handsignierten Bild. Dabei bleibt´s. Der Bürgermeister begibt sich mit dem Kanzler zur weltlichen Prozession. Hoch hebt er das Erhard-Bild über seinen Kopf, der Kanzler winkt seinen Namensvettern und seinem Rannunger Volk zu, als wolle er eine Wespe von seinen Augen wegscheuchen. Beide marschieren durch ein dichtes Spalier beifallsträchtiger Rannunger zum hundert Meter entfernten Haus der beiden Erhard-Kusinen. Diese haben sich eine riesige schwarzrotgoldene Fahne nähen lassen, die das einstöckige Gebäude weit überragt. Die Birken der Gegend scheinen für diesen Tag restlos geplündert zu sein. Äste und Zweige rascheln vielfältig vor jedem Haus. Das Protokoll hat den „Aufenthalt bei den Verwandten“ auf zehn Minuten festgelegt. Zu mehr als diesen zehn Minuten hätte auch der Gesprächsstoff zwischen dem Regierungschef und den Rhön-Kleinhäuslern kaum gereicht.

So weilt Ludwig Erhard genau eine halbe Stunde in Rannungen, dem Ort seiner jugendlichen Ferienfreuden. Der Bonner Polizeiporsche ist längst wieder in Richtung Schweinfurt vorausgefahren. An den gefährlichen Kurven der Straße stauen sich die Bauern, um einen Blick vom Regierungschef zu erhaschen. An einer der Baustellen haben zwei Italiener, die die Ampel bedienen, einen Strauß roten Klatschmohns gerichtet, um ihn dem Kanzler zu überreichen. Den Lehrern in den Dörfern ist es trotz der Ferien gelungen, die Kinder zusammenzutrommeln, die pflichtgemäß dem „Onkel Ludwig“ zuwinken. Überhaupt: wenn der SPD die Jugend gehört, dann gehören der CDU die Kinder. Die Kleinen, noch nicht zwölf Jahre alt, werden in weit stärkerem Maße von der Union als von den Sozialdemokraten mobilisiert. Die Gründe sollen hier nicht untersucht werden.

Schweinfurt empfängt den Kanzler fast kühl. In den drei großen Industriewerken der Stadt stehen die Arbeiter herum, als wollen sie sagen: „Ob er uns wohl verzeiht, wenn wir ihn nicht wählen?“ Der SPD-Oberbürgermeister veranstaltet einen sachlich-kalten Empfang. Auf dem Marktplatz, wo Erhard dann vor der Terrasse des Brauhauses spricht, wollen sich in der Mittagshitze – 28 Grad im Schatten – die rechte Begeisterung, der CSU-Enthusiasmus nicht entwickeln. Vielleicht liegt es auch daran, daß Erhard kurz zuvor in der Kantine der Schweinfurter Kugellagerfabrik sein Mittagsmahl eingenommen hat: Rindfleisch mit Meerrettichsoße, Salzkartoffel, Salzgurke und Preiselbeermarmelade. Nach der Rede besteigt er seinen Sonderzug.

Die Bundesbahn spart nicht mit Superlativen, wenn es um diesen Sonderzug geht: für sie ist er das größte Sonderunternehmen in der Geschichte der europäischen Eisenbahnen. Bis zum 17. September sollt der Kanzler auf ihren Schienen durch die Bundesrepublik. Der Salonwagen ist für diese lange Zeit Ludwig Erhards Wohnung und zugleich sein Büro: mit den neun anderen Sonderwagen ein Kanzleramt auf Rädern, ein fahrbares Palais Schaumburg. Dem Sonderzug sieht man es nicht an, daß von ihm aus für die nächsten Wochen regiert und daß zugleich von ihm aus der wichtigste Teil des Bundestagswahlkampfes 1965 bestritten wird. Nach seinen grundsoliden Farben – Grün, Rostbraun und Dunkelblau – könnte er genauso ein planmäßiger D-Zug sein. 18.000 Kilometer soll er in dieser Zusammenstellung zurücklegen: elektrische Lok, ein Erster-Klasse-Wagen zur Sicherung, zwei Schlafwagen, der Speisewagen, der dritte Schlafwagen, Erhards Salonwagen, ein Bürowagen, der Funk- und Fernmeldewagen und schließlich zwei Autopacker mit neun Automobilen:

Darunter das wertvollste Stück, der Mercedes-Banz 600 mit dem Kennzeichen „S – KE 600“. Mit diesem Wagen hat die britische Königin seinerzeit die Bundesrepublik bereist. Die beiden Buchstaben wurden damals gedeutet als „Königin Elizabeth“. Im Zeichen des Wahlkampfes wurde die Bedeutung einfach umgekehrt in „Kanzler Erhard“. Könnte man von dem Wagen nach der Dorfvisite die Fingerabdrücke nehmen, so wäre darauf die ganze Bevölkerung vertreten. Denn in den meisten Fällen ist es zum ersten Mal, daß ein 600er die Straßen der kleinen Ortschaften passiert.

Der Sonderzug ist 250 Meter lang. Wenn er an einem Zielbahnhof angekommen ist und dort auch nur eine halbe Stunde steht, werden sofort zwei Telephonanschlüsse an das Ortsnetz angeschlossen. Dazu kommen zwei Fernschreiber. Ist der Zug in Fahrt, wird über Funkverkehr Verbindung gehalten. Im allgemeinen ist der Regierungschef darum bemüht, den Wahlkampf nicht vor 11 Uhr morgens zu eröffnen. Vorher will er „regieren“, will er Anweisungen nach Bonn geben.

Im Salonwagen des Kanzlers hat Erhard eine Bettabteilung; neben seinem Salon, in dem sechs Sessel um einen Tisch genügend Platz für kleine Arbeitsbesprechungen bieten. Auf einer Anrichte stehen eine Schale mit Obst, die unvermeidliche Kiste mit Erhard-Zigarren und mit jedem Tag mehr Blumensträuße, die dem Regierungschef auf seiner Wahlreise in jedem Ort geschenkt werden. Pollmann, der Wagenschaffner bestätigt, daß Erhard einen tiefen und gesunden Schlaf hat. Ihm es es gleich, ob der Zug fährt oder auf dem Bahnhof stillsteht. Jedenfalls ist es ziemlich schwer, ihn zu wecken. In der unmittelbaren Nähe des Kanzlers, in einem besonderen Abteil, wacht immer ein Mann des persönlichen Begleitschutzkommandos. Er wacht darüber, daß der Bundeskanzler ohne Schaden wieder nach Bonn zurückkehren kann.

Der Speisewagen ist auf guten, aber nicht außergewöhnlichen Service eingestellt. Boß ist der Franke Fuchs, der eine ausgewählte Mannschaft bei sich hat: einen Chefkoch, einen Küchenhelfer, einen Silberputzer, einen Oberkellner, zwei Wagenkellner und zwei Schlafwagenschaffner. Insgesamt also acht Mann im Dienste der Bequemlichkeit auf Rädern. Fuchs bezeichnet Erhard als einen „sehr bescheidenen und wohlwollenden Gast“. Er kennt fast die ganze Prominenz. Seit 1953 hat er die Bundespräsidenten Heuss und Lübke, Königin Elizabeth von Großbritannien, Königin Sirikit von Thailand, ebenso wie Kaiserin Soraya und natürlich auch Bundeskanzler Adenauer betreut. Aber Adenauer war kein begeisterter Bahnkunde. Schon wenn es nach Cadenabbia ging, plagte ihn nachts wohl jedes Pfeifen der Lokomotive und das Rangiergeräusch auf dem Bahnhof. „Für Erhard ist dies Musik in den Ohren. Sonst würde er sicher nicht so gern mit der Bahn reisen.“

Bei dieser kombinierten Bahn-Autofahrt bleiben die Honoratioren auf der Strecke, jene Herren, die sich in Schale geworfen haben, um Ludwig Erhard bewegt die Hand zu drücken. Der Zeitplan reicht nicht aus, um auch jenen Grüß Gott zu sagen, die ohnehin CSU wählen. Sie bleiben zurück mit bedrückten Gesichtern, mit ungedrückten Händen, trinken aus Gram einen und trinken immer noch einen, damit sie den schwarzen Anzug wenigstens nicht umsonst angezogen haben. Und sie haben daheim nicht einmal die Ausrede, daß der Kanzler sie so lange aufgehalten hat.

Denn dieser ist längst über alle Berge. Nachdem er in Schweinfurt in 30 Minuten drei Fabriken angeschaut und auch noch in der Kantine von Kugel-Fischer gegessen hat, nachdem er in Würzburg vor 5.000 Zuhörern auf dem Bahnhofsplatz gesprochen, nachdem er in Kissingen angehalten, in den Dörfern bis Markt Bibart im Schrittempo durchgefahren und in Neustadt vor den alten Sommerkellern seine Rede gehalten hatte, kurvte er wortlos durch seine Vaterstadt Fürth, als wollte er sie schon als verlorene Tochter der SPD preisgeben. Nur der Ludwig-Erhard-Marsch, vor zwei Wochen in Krefeld uraufgeführt, dröhnte von einem Lautsprecherwagen durch die Straßen der Stadt, als er Kurs auf Richtung Nürnberg nahm. Dort warteten 5.000 Menschen in der Messehalle.

Was er gesagt hat? „Wir wollen treu und brav zueinander stehen, ich habe es immer gut gemacht, nur die Opposition hat immer auf mich geschimpft.“ Erhard gibt sich als der tüchtige Onkel, der Sicherheits-Opa der Deutschen. Die Psychologen, die ihn auch auf seiner Wahlreise ständig begleiten, haben ihm klargemacht, daß das Volk nicht den schimpfenden, den zeternden, sondern den ruhigen, den sanften, den – ja, den weichen Kanzler sehen wolle. Und zwar sehen, nicht hören wolle. Was er sagt, bleibt gleichgültig auf dieser Wahlreise. Wie er es sagt, das ist entscheidend. Und wie sagt er es? Ein wenig blaß am Vormittag. Er sagt selbst, daß er vor 12 Uhr keine Rede halten könne. Am Nachmittag wirkt er stärker.

Eine halbe Stunde nach dem Ende der Nürnberger Wahlrede in der Messehalle sinkt der Kanzler in seinen Sonderzugsessel auf dem Nürnberger Hauptbahnhof. Der „Fränkische Tag“ hat ihn angestrengt, nicht wegen der Menschen, die er anzusprechen hatte, sondern wegen der Hitze. Er läßt sich einen Whisky-Soda einschenken und dann bereitet ihm der Chefkoch das, was er sich vor Beginn der Wahlreise gewünscht hatte: Fränkische Bratwürste mit Sauerkraut. Es ist die letzte Extrawurst, die an diesem Tag für Erhard bereitet wird. Der Sonderzug entschwindet 17 Minuten vor Mitternacht aus dem Nürnberger Bahnhof. Der Fahrdienstleiter atmet auf.

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