17. Dezember 1965: Sonderzüge zu Weihnachten

17.12.2015, 07:00 Uhr
17. Dezember 1965: Sonderzüge zu Weihnachten

© NN

Aber die große Welle begann gestern, als sich Griechen, Jugoslawen und Türken auf den Weg machten. Weitere Züge in den Balkan sowie nach Spanien und Italien folgen in den nächsten Tagen. Der letzte geht am 22. Dezember in unser Nachbarland jenseits des Brenners. Dem Bundesbahnpersonal fällt es oft schwer, mit den temperamentvollen Südländern fertigzuwerden; die Verständigung macht dabei die größten Schwierigkeiten.

An allen Ecken und Enden des Hauptbahnhofs ist zu sehen, daß die Gastarbeiter gut vorgesorgt haben, um in ihrer Heimat als kleine Könige empfangen zu werden. In hochmodernen Reisekoffern und -taschen oder in notdürftig mit Schnüren zusammengehaltenen Kartons nehmen sie all' die Dinge mit, die in ihrer Heimat nur schwer beziehungsweise überhaupt nicht zu bekommen sind: piekfeine Kleidung, Spielzeug, Küchengeräte und Möbelstücke. Fünf, zehn, ja sogar 20 Gepäckstücke pro Person sind nicht selten.

Folgende Situation ist zeitgemäß: Freudestrahlend stürzte sich in der Eingangshalle des Bahnhofs ein Jugoslawe auf einen leeren Gepäckkarren, verfolgt von einem Polizeibeamten. „Ich brauchen diesen Wagen. Ich haben große Bagage.“ Der Beamte mußte seine Freude trüben; nach den Richtlinien der Bundesbahn dürfen Reisende für das Handgepäck nur den Raum über und unter dem Sitzplatz beanspruchen. „Wenn wir die Gastarbeiter gewähren ließen, würde jeder ein Abteil für sich allein beanspruchen“, argumentiert man bei der Bundesbahndirektion.

17. Dezember 1965: Sonderzüge zu Weihnachten

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Doch diese finden Mittel und Wege, die Bestimmungen zu umgehen – schließlich gibt es ja Freunde und Bekannte, Vettern und Nichten, die eine Bahnsteigkarte lösen und die Schachteln und Koffer zum Zug bringen. Das Verladen erfolgt denkbar einfach: das Gepäck wird durchs Fenster ins Abteil geschafft. Triumphierend schleppte gestern ein Grieche eine Nähmaschine zum Sonderzug nach Athen. Verständnisvoll drückten Zugführer und Bahnpolizeibeamte ein Auge zu.

Ihrem Temperament entsprechend, stürzen sich die Gastarbeiter auf die Abteile, wenn ein Zug am Bahnsteig einfährt, obwohl bis zur Abfahrt noch eine gute Stunde Zeit ist. Aber wie gesagt, ihnen geht es weniger um einen guten Sitzplatz – wichtig ist für sie, alle die Kostbarkeiten made in Germany gut zu verstauen. Für die vielen Babies und Kleinkinder dagegen dürfte die Reise zu einer Tortur werden. Immerhin beträgt die Fahrzeit in die einzelnen Länder zwischen 24 und 50 Stunden. Einige Familien führen Spirituskocher mit, um auf der langen Reise ihren Bambinos eine warme Mahlzeit zubereiten zu können.

Koffer waren früher unbekannt

Bei der Bundesbahndirektion erinnert man sich noch genau, wie 1960 die ersten Gruppenreisen für Gastarbeiter begannen. Koffer waren diesen damals zum größten Teil unbekannt. Doch im Laufe der Zeit haben sich die Südländer dem Lebensstandard der Deutschen angepaßt. Sie fahren mit Taxis zum Bahnhof, benutzen Schließfächer, bedienen sich der Gepäckträger und verlangen in zunehmendem Maße Liegewagen. Türkische Gäste waren jederzeit bereit, für die Beförderung ihrer westlichen Errungenschaften zehn Mark aufzuwenden.

Nicht alle haben soviel erreicht, wie jenes griechische Ehepaar, das uns freimütig erzählte, daß es in den letzten vier Jahren 24 000 DM gespart hat. „Da wir jetzt ein Kind haben, müssen wir zurück. Deutschland ist ein wundervolles Land. Wir kommen bestimmt wieder!“

Die Sparsamen erkennt man an gediegener Kleidung und Überseekoffern. Einige wenige kommen in blauer Arbeitshose. Ihr Gepäck besteht zu 90 v. H. aus Alkoholika. „Deitsches Bier ist gutt“, radebrechte ein Gastarbeiter. Für ihn dürfte vom DM-Segen wenig übriggeblieben sein.

Sonderzugplan ausgetüftelt

Warum wollen die Gastarbeiter ihr Gepäck möglichst bei sich haben? Des Rätsels Lösung: an der Grenze ist in den vollgefüllten Zugwagen die Kontrolle weniger scharf, als wenn ein Paket aufgegeben wird und dann die Zollstation durchläuft.

Die Bundesbahndirektion hatte bereits vor Monaten für die Nord-Süd-Reisewelle vor Weihnachten einen Sonderzugplan ausgetüftelt. Sie kalkulierte dabei mit der Zahl der in Nürnberg und Umgebung lebenden Gastarbeiter: etwa 4..900 Italiener, 3.950 Griechen, 3.000 Spanier, 1.650 Türken und 20 Portugiesen. In diesen Wochen sind alle verfügbaren Wagen eingesetzt; teilweise mußten sogar Garnituren aus dem Ausland angefordert werden. Besonders die Züge nach Italien sind bis zu 100 v. H. ausgebucht. Doch auch die Gäste aus dem Balkan und der Iberischen Halbinsel wollen Weihnachten zu Hause feiern, um Freunden und Bekannten ihre in Deutschland erworbenen Schätze vorzuführen.

Die Bundesbahner bescheinigen den Gastarbeitern, daß sie im großen und ganzen angenehme Kunden sind. Etwas vorlaut seien einzelne Italiener. „Doch Schlitzohren gibt es überall“, resümieren sie.

Überschwenglich verabschieden sich die Gastarbeiter auf den Bahnsteigen von ihren deutschen Freunden. Auch so manche deutsche Maid zerdrückt eine Träne. Sie bewegt die Frage: wird ihr Caballero wiederkommen? Nun, solange die DM so hart ist, besteht Hoffnung...

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