20. März 1965: Der verlorene "Buden-Zauber"

20.3.2015, 07:00 Uhr
20. März 1965: Der verlorene

© Gerardi

Der Verkehr braucht Platz, in den neuen Wohnsiedlungen herrscht strenge Ordnung, die alten Mauern stehen allein in ihrer Pracht. Wo ist da noch ein bescheidenes Fleckchen für einen kleinen Kiosk? Gerade diese Häuschen mit den farbigen Titelblättern von Zeitungen und Zeitschriften tragen dazu bei, die große Welt in einer Stadt zu spiegeln. Sie sind ein Stück jenes eigentümlich städtischen Charakters, von Fachleuten Urbanität genannt, der heute von den Architekten und Planern so sehr gefordert wird, weil sie fürchten, daß ohne solche Zutaten das Leben zwischen blanken Fassaden und hohen Betonklötzen erstarrt. Die Pläne für Fußgängerstraßen in der Altstadt und von der Lorenzkirche bis hin zum Aufseßplatz lassen in Nürnberg die Hoffnung aufkeimen, daß hier wieder Raum wächst für ein bißchen Gemütlichkeit. Ein Kiosk, eine Blumenschale oder ein verspielter Schnörkel können gegen das Schlagwort von der „gemordeten Stadt“ überzeugend sprechen.

20. März 1965: Der verlorene

© Gerardi

Die 66jährige Babette Kauper sitzt bei Wind und Wetter, bei eisiger Kälte und heißestem Sonnenschein an einer Ecke der Kreuzung Brücken-/Johannisstraße und verkauft Zeitungen. Seit 37 Jahren schon zieht sie morgens um halb fünf Uhr an ihrem Wägelchen auf, breitet die bunte Welt in gefalteten Papierbogen aus und wartet bis zum Abend auf ihre Kundschaft. In mehr als drei Jahrzehnten ist es ihr nicht gelungen, ein Häuschen zu bekommen, obwohl sie schon so manchen Vorstoß unternommen hat. Selbst die bescheidenen Wünsche sind ihr abgeschlagen worden.

Babette Kauper muß weiterhin in dicken Filzstiefeln auf einem Hocker vor ihrem Stand kauern und von einer Holzbude mit einem wärmenden Ofen träumen. „Die auf dem Liegenschaftsamt lassen so etwas einfach nicht zu“, sagt sie ein wenig resigniert. In jüngster Zeit freilich ist ihr ein fester Stand genehmigt worden, der aber kostet gleich 5.000 Mark. „Des kann ich mir net leisten mit meine 66 Jahr“, meint sie und fragt: „Wer von uns hat des Geld scho?“ So wird sie weiterhin an der Friedhofmauer hocken und sich bessere Zeiten wünschen.

Von sechs blieben drei

Babette Kauper verkörpert ein Schicksal von vielen. Da die Zeit des großen „Budenzaubers“ vorbei ist – nach dem Kriege konnte er sich schier hemmungslos entfalten –, da alles in der Stadt ein Gesicht haben soll, tun sich die Zeitungsverkäufer immer härter, ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Ein gut aussehender, moderner Kiosk kostet Geld, bei einem Pfenniggeschäft aber werden, wenn überhaupt, nur mühsam Reichtümer verdient. Schon mancher hat seine Existenz verloren, weil an irgendeiner Stelle der Stadt mehr oder weniger ansehnliche Bretterbuden weichen mußten, ihm jedoch ein Neubau oder die Miete dafür unerschwinglich schien.

Das wurde offenbar, als vor einigen Jahren der Bahnhofsplatz umgebaut wurde und die Bretterhäuschen an der Mauer beim Königstor verschwinden mußten. Von sechs Zeitungsverkäufern haben sich nur drei noch behaupten können, einer in der Wartehalle bei der Straßenbahnhaltestelle, zwei weitere im Fußgängertunnel. Auch anderswo, wie etwa auf der Insel vor der Lorenzkirche oder am Rathenauplatz, ist es den Kioskbesitzern zum Verhängnis geworden, daß ihr Feld neu gestaltet wurde. „Die Stadt ist nicht kioskfreundlich, vor allem wenn es um ihren eigenen Grund und Boden geht“, folgert daraus Theodor Pfitschler, der Leiter der Fachgruppe Zeitungen und Zeitschriften im Bayerischen Einzelhandelsverband. Er kreidet es den Behörden an, daß sie nicht bereit sind, von einer Grünanlage auch nur ein paar Quadratmeter für einen Kiosk zu opfern.

Als typisches Beispiel dafür nennt Pfitschler den Rathenauplatz, auf dessen Westseite Telephonzellen und auch eine Bude für den Verkauf von Straßenbahnkarten stehen, aber eben kein fester Zeitungsstand. Wer eine Zeitung kaufen will, muß erst in ein naheliegendes Hochhaus gehen. „Ein Kiosk belebt doch das Stadtbild“, meint der Sprecher seiner Händlerkollegen. Er verweist auf die vielen Möglichkeiten, solche Häuschen neuzeitlich und sauber zu gestalten, so daß sie nicht als Schandfleck empfunden werden müssen. „Wir wollen uns um ordentliche Kioske bemühen, dafür aber könnte die Stadt auf einigen Plätzen entgegenkommender sein!“

Zwei Drittel Stammkunden

Pfitschler hat es am eigenen Leibe erfahren, wie die Stadtplanung einem Zeitungsverkäufer zusetzen kann. Zehn Jahre lang hatte er seinen festen Platz an der Christuskirche, mußte dann aber einpacken. Neuerdings fürchtet er um seinen Stand in der Wartehalle am Friedrich-Ebert-Platz, der umgebaut werden soll. Dabei ist daran gedacht, die Haltestelle der Omnibusse nach Thon zu verlegen. „Da kann ich stempeln gehen“, sagt Theodor Pfitschler, denn er glaubt nicht am Stadtrand auf zwei Drittel Stammkunden und ein Drittel Laufkundschaft zu kommen wie in dem dicht besiedelten Wohnbezirk um seinen jetzigen Sitz.

Wenn auch die Lage für die Kioskbesitzer in der Großstadt gegenwärtig alles andere als rosig ist, so gibt es doch auch Hoffnungsschimmer. Es finden sich sogar Beweise dafür, daß in Nürnberg der Kiosk in kein Schema gepreßt oder gar stupid in eine Uniform gekleidet wird. Ein Turm der Stadtmauer am Färbertor (er fehlt nur vorübergehend wegen des Straßenbaues) dient ebenso als Laden für Presseerzeugnisse wie ein neu entwickelter Stand, der im Windschatten eines großen Gebäudes am Maxfeld auf seine Weise Internationalität ausstrahlt.

Die „Straßenmöbel“ wie Masten, Schaltkästen, Feuermelder und eben auch Kioske können ebenso abwechslungsreich sein wie das Mobilar einer Wohnung. Daß sie gebraucht werden, steht außer Zweifel. „Es ist nicht notwendig, überall nur ein oder zwei Typen von Kiosken zu bauen“, meint Oberbaurat Diether Kohler, der Leiter des Stadtplanungsamtes, denn sie könnten aus der Situation heraus entwickelt werden. Beim modernen Städtebau erhebe sich ohnehin die Frage, ob nicht zuviel reglementiert oder gar uniformiert werde. „Die Verwaltung ist nicht dagegen, daß Zeitungen an Kiosken verkauft werden“, versichert Kohler angesichts der Kritik, daß die Behörden auf dem kalten Weg über das Kiosksterben die vierte Säule der Demokratie (die Presse) ins Wanken bringen.

Noch 363 Kioske

Der Stadtplanungschef versucht, zu beweisen, daß Nürnberg gar nicht so budenfeindlich ist, wie es scheinen mag. Mit harten Zahlen belegt er, daß es am Anfang des Jahres 1964 immerhin noch 363 Kioske und Ladenprovisorien gegeben hat. Diese Zahl ist zwar längst nicht mehr so imposant wie in der ersten Zeit nach dem Kriege, wo überall auf den Trümmerfeldern, kleine, oft recht primitive Bretterhäuser aus dem Boden geschossen sind, aber dafür stehen heute auf den Flächen, die sie einst „beschlagnahmt“ hatten, wieder stattliche Gebäude.

Daß die „böse“ Stadt gar nicht so unerbittlich ist, deutet Kohler damit an, von den 363 Ständen und Behelfsläden seien die meisten entweder schwarz gebaut, nachträglich geduldet oder auf Widerruf genehmigt. Er weist es freilich nicht von der Hand, daß Kioske gelegentlich ein handfestes Problem für den Stadtplaner bilden können, wenn sie sich seinen Absichten in den Weg stellen. Schlechte Erfahrungen haben die Behörden hellhörig gemacht.

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