23. August 1965: Hart und steinig ist der Weg zur Macht

23.8.2015, 16:52 Uhr
23. August 1965: Hart und steinig ist der Weg zur Macht

© Kammler

Ein hochgeschossener Bub schlendert über Bahnsteig 1 des Nürnberger Hauptbahnhofs: den roten Pullover hat er sich um den Hals geschlungen, er trägt ein bunt kariertes Hemd, eine graue Hose und einen breiten Wildwestgürtel, braun und rot gestreift. Er müßte einmal zum Friseur gehen, denn seine blonde Mähne hängt tief in den Nacken. Mit überwachen Augen schaut er durch die scharfe Brille auf die sechs roten Waggons, die an diesem heißen Morgen auf dem Nürnberger Hauptbahnhof abgestellt sind.

Das ist Lars Brandt, Sohn des SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt, der seinen Vater seit 13 Tagen auf Schritt und Tritt, kreuz und quer durch die Bundesrepublik begleitet, mit kritischen Blicken begleitet. Fragt man ihn am Vormittag über seinen Vater, so antwortet er ein bißchen altklug: „Naja, wie er halt vor dem Mittagessen so ist.“ Am Nachmittag meinte der Junge, der sich stets im Hintergrund aufhält, der seinen Vater vielleicht am Abend für ein paar Worte sprechen kann: „Donnerwetter, jetzt ist er aber gut.“ Das ist auf dem Nürnberger Rathenauplatz. Willy Brandt hält gerade die sechste Rede des Tages. Man glaubt dem Buben auf Anhieb, daß er das, was er da am Nachmittag sagt, am Abend auch dem Vater erzählt.

Zu diesem Zeitpunkt hat der SPD-Vorsitzende schon ein gutes Stück Arbeit hinter sich: gegen Mitternacht hatte er den Raum Hannover–Wolfsburg verlassen, um 5.14 Uhr mit dem Sonderzug Nürnberg erreicht. Zweieinhalb Stunden später sitzt Willy Brandt bereits an einem kleinen Schreibtisch im Salonwagen. Neben ihm liegt ein Packen Zeitungen auf dem Boden; er hat die Blätter während des Frühstücks schon durchgenommen. In der Ecke stehen riesige Sträuße von Gladiolen, die er in Hannover erhalten hat. Der Kanzlerkandidat trägt eine schwarze Hornbrille.

23. August 1965: Hart und steinig ist der Weg zur Macht

© Kammler

Draußen brennt die Sonne auf die Gleisanlagen. Im Salonwagen herrscht bereits eine Bullenhitze. Der rote SPD-Sonderzug ist auf Gleis 1 abgestellt, genau an jener Stelle, an der fünf Tage zuvor der Sonderzug des Kanzlers gehalten hatte und auch genau an jener Stelle, an der jeweils donnerstags ein Sonderwaggon mit einer weit weniger vornehmen Fracht hält: dort lädt man nämlich die Strafgefangenen aus und ein, die in andere Orte der Bundesrepublik verschoben werden.

Nürnberg und Fürth: das war ein Musterbeispiel dafür, wie Brandt und seine Leute den Wahlfeldzug zu führen gedenken. Der SPD-Kandidat rollt durch die Lande auf einer gut geölten Organisation und auf einer politisch weichen Welle. Jede Minute ist vorher mit der Stoppuhr ausgerechnet. Von seinem Zeitplan weicht Brandt kaum mehr als fünf Minuten ab. Das „Campaigning“ – Fachausdruck für den Werbefeldzug – klappt wie am Schnürchen. Jeder überreichte Blumenstrauß, jedes Transparent „Wir grüßen Willy“ ist im Organisationsplan enthalten. Die Leute, die Brandt begleiten, unter deren Fuchtel er in diesen Wochen ebenso steht wie alle anderen Spitzenpolitiker – sie alle haken während des Feldzuges nur ihre Liste ab. Sie gehen, wenn Brandt kommt. Stimmt der Zeitplan, dann eilen sie voraus zum nächsten Treffpunkt. Stimmt er nicht, dann raunen sie dem SPD-Vorsitzenden ins Ohr: „Drei Minuten aufholen“. Er folgt ihnen wie ein braves Kind.

In Nürnberg sieht das so aus: Punkt 11.30 Uhr tritt Brandt aus seinem Sonderzug: jetzt mit dezenter Krawatte und braungrauem Anzug, geht die 50 Meter hinüber zum Carlton, begrüßt die Abgeordneten Käte Strobel und Georg Kurlbaum, die Stadtoberhäupter Urschlechter und Haas, gibt eine Pressekonferenz. Um 12 Uhr unterbricht man die Journalisten: „Wenn keine weiteren wichtigen Fragen mehr bestehen, dann fahren wir.“ Der Mercedes 300 steht parat. Das Dach ist zurückgeklappt. Im Gesellschaftshaus Gartenstadt warten bereits 80 „Multiplikatoren“: das sind – ebenfalls im Wahlkampfjargon – jene Leute, hauptsächlich Betriebsräte, die der Ansicht der SPD an ihren Arbeitsstätten zum Sieg verhelfen, die die Meinung Brandts „vervielfältigen“ sollen. Die Veranstaltung ist als „Arbeitsessen“ deklariert. Die Kellnerinnen tragen Leberreissuppe auf und dann Schweinernes mit Kniedla. Aber Brandt ist nicht nur gekommen, um ein gemütliches Essen einzunehmen. Ihm liegt etwas anderes am Herzen.

Die Experten haben herausgefunden, daß die Wahlbeteiligung bei den Arbeitnehmerschichten zu wünschen übrig läßt. Was einst der Albtraum der bürgerlichen Parteien war, scheint zur Hauptsorge der SPD geworden zu sein. Brandt nennt Zahlen. Der Wahleifer der Arbeiter hinkt in vielen Gebieten der Bundesrepublik weit hinter der allgemeinen Wahlbeteiligung zurück, nämlich bis zu zehn Prozent. Als der SPD-Kandidat dies offen ausspricht, wird bei manchen der Schweinebraten kalt. Das ist ihnen, den Funktionären noch nicht in dieser Härte gesagt worden. Brandt fordert sie ganz energisch auf, mehr zu tun, damit dieser Rückstand aufgeholt wird. Keine Hand regt sich zum Beifall, als Brandt vorrechnet: „Ein Prozent mehr Stimmen für uns, das sind fünf Abgeordnete. Und fünf Abgeordnete können bei der Endausrechnung entscheidend sein.“

Um 13.15 Uhr sagt ein Funktionär das, was den Organisatoren gar nicht in das Image eines Kanzlerkandidaten paßt: „Lieber Genosse Brandt, hast du schon gehört?“ Das alte Funktionärs-„Du“ paßt nicht in das Schema, man will das Bild Brandts nicht durch alte Sentimentalitäten belasten. Mit dem Godesberger Programm ist der „Genosse“ verschwunden. Brandt selbst sagt auch im Funktionärskreis: „Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kollegen.“ Kein Wort vom Genossen. Vor wenigen Tagen – in Köln – hat sich einer, der 40 Jahre bei der Partei ist, darüber beklagt: „Herr Regierender Bürgermeister, Sie haben gesagt, ich darf nicht du zu dir sagen.“

Draußen vor dem Saal hat eine Blaskapelle inzwischen lautstark ein Operetten-Potpourri angestimmt. „Dein ist mein ganzes Herz“, so erklingt es und langsam sammeln sich die Menschen aus der umliegenden Siedlung, die in den 20er Jahren auf Initiative der SPD entstanden ist. Die Jungsozialisten vom Dienst rollen ihre Transparente auf. „Wir wollen Willy“, so steht darauf. Die Organisatoren drinnen schauen auf die Stoppuhren, nicken dem SPD-Vorsitzenden zu. Dieser steht auf, wohl wissend, daß er den Leuten im Saal zumutet, das Mittagessen draußen in den Betrieben wieder hereinzuarbeiten, verabschiedet sich kurz. Die Stadtdurchfahrt beginnt.

Am Finkenbrunn, am Aufseßplatz, am Hallplatz, am Rathenauplatz: immer das gleiche Bild: die Leute winken mit schwarzrotgoldenen Fähnchen, die vorher verteilt worden sind, die Musikkapelle spielt, da und dort ist sogar ein eigenes Freiluftprogramm abgewickelt worden. Jeweils kurze Begrüßung durch den zuständigen Abgeordneten oder das Stadtoberhaupt. Brand hält daran fest, sachlich zu argumentieren, jede persönliche Schärfe zu vermeiden. Das äußerste, wozu er sich hin und wieder versteigt, ist die Bezeichnung „Schimpfkanzler“ für Professor Erhard – die Zuhörer reagieren heftig – oder der Satz: „Ein weicher Kanzler kann die DM nicht wieder hart machen.“

Stets bei den gleichen Passagen erhält der SPD-Kanzlerkandidat den stärksten Beifall: Auf die Bemerkung, er werde aus dem Wahlkampf keine „Schimpf-Olympiade“ machen, wenn er gegen die „schleichender Inflation“ zu Felde zieht und der Regierung vorwirft, nicht maßgehalten und den Haushalt in Unordnung gebracht zu haben. Ferner kommt Beifall, wenn er sagt, die Bundesrepublik wolle nicht wieder eine militärische Weltmacht werden, wohl aber bei Bildung und Wirtschaft, Technik und Kultur Weltgeltung erstreben. Schließlich stimmt das Publikum stets dann begeistert zu, wenn Brandt meint, zur Friedenssicherung gehöre es auch, das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn Deutschlands in Ordnung zu bringen, und wenn er „kleine Schritte“ befürwortet, solange große nicht möglich seien. Die ganze Politik sei nichts wert, wenn sie den Menschen das Leben nicht leichter mache, sondern es ihnen erschwere. Die Außenpolitik berührt er nur am Rande.

Heiser ist seine Stimme, obwohl ihm die Begleiter spätestens nach der dritten Rede des Tages dauernd Honigbonbons in den Wagen reichen. Aber er mag sie nicht. So wirkt er weiter rauchig, aber auch beschwörend, selbst in der Mittagshitze. Er redet den Leuten, bei jedem Wortstakkato mit den Knien wippend, ins Gewissen. „Ich komme nicht, um etwas zu versprechen, sondern nur um Sie um etwas zu bitten.“ Seine Lieblingsthemen sind die „großen Gemeinschaftsaufgaben“, sind der friedliche Wettbewerb mit den anderen Völkern, „von denen wir nicht nur nehmen, sondern denen wir auch etwas geben müssen.“

10 Minuten später: im Messehaus kündigt der Conferencier den Berliner Gast an, der seit 30 Sekunden draußen vor der Tür wartet. Dann ein Tusch und der Marsch. „Das ist die Berliner Luft“, 2.000 Menschen – mehr kann an einem heißen Augustnachmittag die beste Organisation für eine Parteiversammlung nicht zusammentrommeln – klatschen im Rhythmus. Aber es ist nicht die Berliner Luft. Es ist die verdammt harte Luft des deutschen Wahlkampfes, die Willy Brandt von Termin zu Termin treibt. Schon eine Stunde später ist er im Fürther Geismannsaal.

Dort hat er viereinhalb Minuten Zigarettenpause. Er sitzt an einem Tisch und raucht, stützt seinen Kopf auf die linke Hand. Als ein kleiner Bub ihn um ein Autogramm bittet, winkt er müde ab. Dann hält er seine Rede, hetzt zum Flughafen, fliegt nach Worms. Rede auf dem Marktplatz. Dann muß er nach Mainz, Bingen und Kreuznach. Dorthin ist inzwischen der leere Sonderzug gefahren. Gegen Mitternacht sinkt er todmüde ins Bett. Bis zum 18. September will der SPD-Vorsitzende sechs Millionen Menschen ansprechen will er 40 Großstädte besuchen, muß er 475 Kurzansprachen und 75 längere Reden halten. Hart und steinig ist der Weg zur Macht.

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