24. Dezember 1965: Die großen Wünsche

24.12.2015, 07:00 Uhr
24. Dezember 1965: Die großen Wünsche

© Ulrich

„Ich wünsche mir einen Doktorkoffer (für die Puppen), Schlittschuhe, Rollschuhe, eine Puppe, dazu vier Kleider, ein Telephon, eine Tafel und einen Füllhalter“, liest die siebenjährige Renate E. von ihrem gemalten Brief an das Christkind ab. „Noch etwas?“ fragt die Lehrerin. Das aufgeweckte, rotblonde Mädchen gibt kleinlaut zurück: „Meine Mutter sagt, ich dürfe nicht so viel bestellen!“ Renate hat noch sieben Geschwister, von denen das älteste gerade in die vierte Volksschulklasse geht; ihr Vater ist Rangierer bei der Bundesbahn.

Die lange Liste von Wünschen erscheint der Kleinen durchaus nicht übertrieben. Das Mädchen ist beispielhaft für so manche Kinder von wenig begüterten Eltern, bei denen sehnsuchtsvolle Träume und die rauhe Wirklichkeit nicht zusammenpassen. Es ist auch kein Geheimnis, daß doppelt verdienende Ehepaare an hohen Festtagen mit Geschenken all das an ihren Kindern gutmachen wollen, was sie das Jahr über notgedrungen an ihnen versäumten.

Unterschiede bei den Kinderwünschen

Vor allem bei den Abc-Schützen wird es deutlich, welchen Einfluß die Familie und die Schule auf sie haben können. Annegret, die Tochter eines Versicherungsjuristen, gibt sich lange nicht so anspruchsvoll wie ihre Mitschülerin Renate. Mit Schlittschuhen und einem Tafelschoner will sie schon zufrieden sein. Andere Mädchen sind offensichtlich bei den Bescherungen zurückliegender Jahre nicht verwöhnt worden. Viele von ihnen wollen sich mit einer Puppe, einem Puppenwagen oder einem Kaufladen und einigen Kleinigkeiten wie Buntstiften, einem Märchenbuch und einem Ball begnügen.

Die Technik spielt bei den kleinen Evas-Töchtern noch keine solche große Rolle wie bei den Buben. Für Angela, Anita oder Christel wird eben noch nicht mehr geboten als elektrische Waschmaschinen und Herde für das Puppenhaus oder tanzende Clowns und Affen. Die Jungen hingegen stehen einer bunten Vielfalt von Spielzeug gegenüber, das fährt, fliegt und schwimmt. Polizeiautos mit Blinklichtern, Kranwagen, Eisenbahnen, ganze Autobahnen, Bagger und Baukästen von modernstem Zuschnitt tauchen auf fast allen Wunschzetteln auf. Die holde Weiblichkeit und die harten Männer im zarten Alter teilen bestenfalls noch ihr Interesse für Stofftiere, die es in jeder Größe und Preislage gibt.

Aber nicht allein verlockende Schaufensterauslagen und eine raffiniert gezielte Werbung lenken und leiten die Kleinen in ihren Wünschen, sondern auf sie wirkt noch stärker ihre unmittelbare Umgebung ein. In der ersten Klasse einer Reichelsdorfer Schule schlägt es sich in den Briefen an das Christkind nieder, daß dort Anfang des Jahres der Handarbeitsunterricht beginnt. Durch die Bank wünschen sich die Kinder eine Strickliesel, ein Handarbeitskörbchen, Scheren und Wolle. Anderer Erstklässler dürfen bald mit Tinte schreiben, daher werden von ihnen Füllhalter begehrt. Der Doktorkoffer aus dem Lesebuch ist ein oft geäußerter Lieblingswunsch. In einer gemischten fünften Klasse des Schulhauses Wiesenstraße scheint jedes Kind das andere mit einem recht originellen Tier übertreffen zu wollen.

Der elfjährige Hansjürgen ist mit seiner Sehsucht nach einem Schäferhund mit Halsband und einer schwarzen Katze beinahe ebenso „normal“ wie seine Klassenkameradin Gisela, die einen Pekinesen will, denn ihre Mitschülerinnen Sonja, Brigitte, Ingrid und Angela tun es nicht unter einem Igel, einem Papagei, einem Hamster, einem Pony und gar noch einem Hengst. In einigen Klassen der Bieling-, Grimm- und Saarbrückener Schule wird die Tierliebe offensichtlich groß geschrieben.

Der Wunsch nach dem Verbotenen

Der kleinen Christine soll das Christkind ein Reitpferd oder ein Pinselohräffchen bringen; mit einem lebenden Hündchen, einem Eichhörnchen, einem Vogel und einem Häschen möchte die elfjährige Gisela vermutlich einen Privatzoo eröffnen. Eigenartig daran ist, daß die meisten dieser Kinder in Wohngegenden mit Mietshäusern leben, in denen es nicht einfach sein dürfte, vierbeinige Hausgenossen zu halten.

Aus den Wunschzetteln von allen Schülern, ganz gleich ob groß oder klein, läßt sich freilich auch herauslesen, welche Haltung die einzelne Familie in dieser Wohlstandsgesellschaft einnimmt. Die größte Zahl von Kindern, deren Väter als Beamte, kaufmännische Angestellte und in freischaffenden Berufen tätig sind, werden offensichtlich schon frühzeitig zum Maßhalten und zur Sparsamkeit erzogen. Aus diesen Schichten stammen jedenfalls nur äußerst selten Buben und Mädchen, die den Kopf voller Flausen haben. Bei älteren Schülern aus kleinen Verhältnissen setzt sich manchmal schon die Einsicht durch, die einer in den Worten festgehalten hat: „Wünsche hätte ich viele, aber nicht alle können in Erfüllung gehen. Wir sind eine große Familie und mein Vater ist kein Direktor.“

Die große Welt im kleinen – das entspricht am meisten den Vorstellungen der Kinder in dieser Zeit. „Ich wünsche mir eine Carrera-Rennbahn mit einem Porsche 911 und einem Ferrari, dazu noch eine Tribüne mit vielen Leuten und einen Fernsehturm. Ich hätte außerdem gerne ein Radio mit einer Antenne“, schreibt schon der zehnjährige Harald aus der Hegelschule. Der Mercedes 600 ist dem Roland aus der gleichen Klasse ebenso willkommen wie dem Franz in Langwasser eine Disney-Bahn. Der achtjährige Norbert möchte ein James-Bond-Hemd unter dem Weihnachtsbaum entdecken, die Ariane aus der ersten Klasse der Holzgartenschule Schallplatten von Peter Alexander.

Die Beatles spuken in vielen Volksschüler-Gehirnen herum. Je älter die Buben und Mädchen sind, desto mehr lassen sie sich von der Kleidermode treiben. Die Letkiss-, Shake- oder Slop-Hose erachten manche Jünglinge ebenso chic wie einen Blazer. Die Mädchen, die sich etwas für ihre Aussteuer wünschen, scheinen dagegen fast von gestern zu sein. Der Drang, Geld zu „machen“, äußert sich bei allen Altersstufen in der Forderung nach dem Spiel Monopoli, mit dem die Spekulation zu erlernen ist.

Erfreulich groß ist aber auch die Zahl jener, deren Phantasie nicht nur um materielle Werte kreist: „Ich wünsche mir, daß sich meine Mutti nicht mehr über mich ärgern muß“, schreibt Heike aus der 2. Klasse in Langwasser, und ihr Schulkamerad Toni ist mit „Fröhlichen Weihnachten“ zufrieden. Der bescheidene zehnjährige Hans-Jürgen aus der Trabantenstadt hofft auf Schnee, damit er Schlitten fahren kann, einen kleinen Weihnachtsbaum ganz für sich selbst möchte der Drittklässler Jens aus der Hegelschule haben.

Das Christkind wird seine helle Freude an Kindern wie Iris, Ingrid, Helmut, Norbert, Werner, Stefanie und Kurt haben, die ihm in vorbildlich schöner Schrift ihre Wunschzettel aufgesetzt haben. Was aber mag es zu den Achtjährigen wie Gerlinde, Sylvia, Evelyn und Dieter sagen, die nicht einmal ihren Namen schreiben können und ihre Briefe mit den Worten „Liebes Griskind!“ beginnen? Der zwölfjährige Horst von der Schule Heroldsberger Weg hätte es einigen seiner Altersgenossen gleichtun und um einen Duden bitten sollen, denn schwarz auf weiß ist in seinem Brief zu lesen: 1 Zürgelkasten (Zirkelkasten), 1 Hockilate (Hockey-Latte), 2 Badrie für 6 Tranzsistor (2 Batterien für 6 Transistoren).

Heute abend wird es sich erweisen, welche der vielen tausend Wünsche wahr werden. Als einziger von 1.119 Buben und Mädchen kann der 13jährige Achim D. keinesfalls enttäuscht werden, weil er dem Christkind mitgeteilt hat: „Ich wünsche mir nichts.“

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