25. Oktober 1965: Gastarbeiter fühlen die Fremde

25.10.2015, 07:00 Uhr
25. Oktober 1965: Gastarbeiter fühlen die Fremde

© Gerardi

Außer diesem Thema, der sozialen Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, beschäftigt sich die Arbeiterwohlfahrt während der Tagung in Nürnberg mit den Hilfen, die behinderten Kindern, Jugendlichen und alten Menschen gewährt werden können. Schon am Samstagabend hatte die Stadt Nürnberg ihren Gästen im Rittersaal der Kaiserburg einen festlichen Empfang bereitet, bei dem Oberbürgermeister Dr. Andreas Urschlechter das unsentimentale Traditionsbewußtsein der modernen Großstadt hervorhob.

Im schmalen Stück Geschichte der Arbeiterwohlfahrt seit 1919 sei nach dem Krieg bewußt an die Gedanken angeknüpft worden, die von Arbeitern in der Weimarer Republik getragen worden waren. „Das ist – wie die Stadt Nürnberg – zerstört worden“, fand Bürgermeister Albertz als einen gemeinsamen Berührungspunkt.

Grußwort des Bundespräsidenten

Am Sonntagvormittag begrüßte er die lange Reihe der namhaften Ehrengäste und die Delegierten in der Meistersingerhalle und verlas das Grußwort des Bundespräsidenten Dr. Heinrich Lübke, der die Reichskonferenz als ein Bekenntnis zur freien Wohlfahrtspflege würdigte. Schließlich erinnerte er an die Gleichgesinnten jenseits der Zonengrenze und der Berliner Mauer, durch die der Verband, dem 200.000 Mitglieder angehören und der auf über 7.000 hauptberufliche Mitarbeiter und 80.000 ehrenamtliche Helfer rechnen darf, zur halben Gemeinschaft verurteilt sei.

Vor den Delegierten der Arbeiterwohlfahrt, die sich besonders um die 135.000 türkischen Gastarbeiter in Deutschland kümmert, beschäftigte sich Ministerialdirektor Dr. Potthoff mit den sozialen Folgen und sozialen-politischen Konsequenzen aus der weiter über die Grenzen von EWG und EFTA hinausgehenden Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplates. Fremde Sprache und Religion, andere Ernährung und ungewohntes Klima sowie mangelnder gesellschaftlicher Kontakt prägten die Umwelt der Gastarbeiter, die zwar Reichtum und Zufriedenheit um sich sähen, in denen sich jedoch Unzufriedenheit, manchmal sogar Abneigung gegen das Gastland ausbreite, das Sympathien doch so dringend benötige.

Dr. Heinz Potthoff fand die Ursache darin, daß es bisher nicht gelungen sei, die ausländischen Arbeitskräfte sozial und gesellschaftlich einzugliedern. Als Therapie empfahl er verstärkte Familienzusammenführung, mehr Familienwohnungen für Gastarbeiter, Förderung des Schulbesuches für ausländische Kinder und Jugendliche, mehr Freizeitzentren, Beratungsstellen und Sprachkurse, berufliche Fortbildungslehrgänge und die Garantie beruflicher Aufstiegschancen. „Wenn man der Meinung ist, daß ohne Gastarbeiter der Lebensstandard in der Bundesrepublik nicht zu halten ist, muß man sich auch um diese Dinge annehmen“, erklärte der Redner.

Während der Reichskonferenz bis zum 27. Oktober, an der 230 Delegierte und 400 ständige Gäste teilnehmen, wird die Arbeiterwohlfahrt nicht nur über die Betreuung ausländischer Arbeiter sprechen. Sie will sich außerdem mit den Hilfen befassen, die geistig behinderten Kindern, Jugendlichen und alten Menschen gewährt werden können. Auch Fragen der Müttergenesung und des europäischen Jugendaustausches stehen auf dem Programm der Tagung.

Die Delegierten, die heute zur Wahlurne gehen, werden auch die Bilanz aus der Jahresarbeit der großen Organisation ziehen. 1964 betreute die Arbeiterwohlfahrt 135.000 Kinder in Ferienheimen und Lagern, 60.000 Kinder in Erholungs- und Kurheimen, 14.000 Frauen in Müttergenesungsheimen und 21.000 alte Menschen in Erholungsheimen.

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