26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

26.3.2016, 08:50 Uhr
26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

© Friedl Ulrich

Der junge Aufnahmearzt muß die Frau enttäuschen: "Ich habe im Augenblick kein Bett frei für Ihre Tante. Es tut mir leid, rufen Sie bitte heute nachmittag noch einmal an. Ich werde Ihre Tante vormerken."

Während der Arzt noch spricht, läuten zwei Telephone auf seinem Schreibtisch. "Hier Aufnahmearzt. Ist das wirklich eine Hepatitis? … Ich will es versuchen, Herr Kollege!" Über die zweite Telefonleitung wird ein dringender auswärtiger Fall avisiert.

Und wieder greift der Arzt zum Telephon. Diesmal ruft er eine Station des Hauses an und erinnert den zuständigen Arzt daran, daß er nach dem "Klinikschlüssel" heute drei freie Betten für Frauen hätte melden müssen. Tatsächlich habe die Abteilung aber nur ein freies Bett zur Verfügung gestellt und so ihr „Soll“ nicht erfüllt. "Ich brauche die Betten dringend", mahnt der Kollege den Kollegen.

26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

© Friedl Ulrich

Soweit ein Fünf-Minuten-Ausschnitt aus dem 24-Stunden-Dienst der Aufnahmeärzte in den städtischen Krankenanstalten. Als Treuhänder über freie Betten müssen sie oft leidende Menschen abweisen, weil die Stationen voll belegt sind. Voll belegt? 120 Betten stehen leer, weil es an Pflegepersonal fehlt.

Nicht auf allen Stationen Bettennot

So sieht die harte Wirklichkeit in Nürnberg aus. Die Bevölkerung wird sich mit den Tatsachen abfinden müssen. Abgewiesene Patienten werden diejenigen beneiden, die ein Bett erhalten. Sie können oft nicht verstehen, weshalb man sie wieder nach Hause geschickt hat. Manche werden Böses vermuten. Nur so läßt sich erklären, daß im Kommunalwahlkampf die Behauptung aufgestellt wurde, man brauche "Beziehungen", um in Nürnberg ins Krankenhaus aufgenommen zu werden.

Stimmt dies wirklich? Wir unterhielten uns mit dem ärztlichen Direktor der städtischen Krankenanstalten, Obermedizinaldirektor Professor Dr. Walther Schäfer, und wir saßen einen Vormittag lang im Zimmer des Aufnahmearztes. Vorab muß klargestellt werden, daß nicht auf allen Stationen Bettennot herrscht. Verschiedene Kliniken – etwas Hals-, Nasen-, Ohrenklinik, Urologie, Augenklinik und andere – können jederzeit Patienten aufnehmen oder so disponieren, daß kein Notstand eintritt. Die neuralgischen Stellen sind die Chirurgie und die Inneren Abteilungen. Weil sich viele chirurgische Eingriffe nicht aufschieben lassen, sind die Stationen im Bereich der Operationssäle teilweise überbelegt. Schon mancher hat seinen "Blinddarm auf dem Gang abgemacht", wie ein Patient in einem Anflug von Galgenhumor nüchtern feststellte.

26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

© Friedl Ulrich

Am schlimmsten ist das Mißverhältnis zwischen Aufnahmeersuchen und freien Betten auf den Inneren Abteilungen. Und ausgerechnet hier können etwa 80 Betten wegen Personalmangels nicht belegt werden. Der Aufnahmearzt ist also gezwungen, einen besonders strengen Maßstab anzulegen. Professor Schäfer nannte drei Voraussetzungen, die eine Krankenhausaufnahme rechtfertigen: Schwierige Diagnose, Spezialeinrichtungen zur Behandlung, über die der Praktiker nicht verfügt, und schließlich die klinische Pflegebedürftigkeit. Diese Richtlinien sind für den Aufnahmearzt bindend.

In der Praxis wird der Treuhänder über die freien Betten beispielsweise bei mehreren Einweisungen wegen Herzleiden sich kurz über die Symptome informieren. Dann wird er seine Entscheidung nach ärztlichen Gesichtspunkten fällen.

"Der Schweregrad einer inneren Erkrankung ist nicht zu messen und nicht zu wiegen", betont Professor Schäfer. "Es gibt so viele Nuancen, die teilweise schon die einweisenden Ärzte festgestellt haben. Dem Aufnahmearzt muß die Entscheidung nach Wissen und Gewissen überlassen bleiben."

26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

© Friedl Ulrich

Der Direktor der städtischen Krankenanstalten nennt aber auch noch andere Dinge beim Namen: in vielen Fällen seien es nur häusliche Pflegeschwierigkeiten, die Angehörige veranlaßten, ihr Familienmitglied dem Krankenhaus anzuvertrauen. Wieder andere Patienten könnten nicht warten, bis sie aufgenommen werden.

"Die Ungeduld ist mit ein Kennzeichen der heutigen Zeit", stellt Professor Schäfer fest. Mit einem Hinweis auf die 80 nicht zu belegenden Betten in der Inneren Klinik versichert er: "Die Bevölkerung hat die Krankenhäuser, für die sich Pflegepersonal aus ihren Reihen zur Verfügung stellt." Daran sollte man wohl auch bei den Neubauplänen für ein zweites Krankenhaus im Süden der Stadt zu allererst denken.

Früh um acht Uhr melden auch die einzelnen Kliniken ihre frei werdenden Betten an die Verwaltung und – soweit es sich um die Inneren Kliniken handelt – an den Aufnahmearzt. Nach dem sogenannten "Klinikschlüssel" ist jede Station gehalten, werktags eine bestimmte Zahl Patienten zu entlassen und dafür neue Patienten aufzunehmen. Der Aufnahmearzt trägt die verfügbaren Betten der Inneren Abteilungen in eine Liste ein, stellt fest, daß die eine oder andere Station ihr "Soll" nicht erfüllt hat und zieht den ersten vorläufigen Strich: sieben Betten frei, davon bleibt eines für einen möglichen Infarkt, eines für ein Zucker-Koma und eines für eine Hepatitis (ansteckende Gelbsucht) tabu. Bleiben also noch vier Betten. Davon drei für Männer, eines für Frauen.

26. März 1966: Engpässe in der Chirurgie und in den Inneren Kliniken

© Friedl Ulrich

Früh um acht fahren die Sanitätsautos vor. Die meisten Patienten sind angemeldet, können aber nur passieren, wenn der Aufnahmearzt die Begleitpapiere unterschreibt und einen Aufnahmeschein ausstellt. Früh ab acht Uhr füllt sich das Wartezimmer des Aufnahmearztes mit Kranken oder mit Familienangehörigen, die den Einweisungsschein in der Tasche haben. Ab früh um acht läuten die beiden Telephone auf dem Schreibtisch der Aufnahme fast pausenlos. Ärzte schildern ihrem Kollegen ihre krankenhausreifen Fälle für die Inneren Kliniken. Der Aufnahmearzt kann noch nicht zusagen, er muß erst einmal Übersicht gewinnen. Und dann beginnt das Abwägen. Hier die Betten, da die Kranken, beides multipliziert mit 24 Stunden und deren Ungewissheit. Nach der ersten Vorauswahl muß der Aufnahmearzt nicht selten weitere Betten "organisieren". Je nach Temperament und Talent wird es dem einen oder anderen gelingen, seine Kollegen von der Dringlichkeit der Fälle zu überzeugen. Dies bedeutet aber wiederum, daß Patienten plötzlich nach Hause geschickt werden müssen. Notentlassung heißt der offizielle Ausdruck dafür. "Rausgeworfen haben sie mich", stellt mancher Kranke grollend fest. Unbehelligt von diesem Verfahren sind grundsätzlich Kranke, die in Lebensgefahr schweben oder Menschen, die Unfälle erlitten haben. Vergiftungen, Infektionen, Infarkte, Koma bei Zuckerkrankheit und eilige chirurgische Fälle werden jederzeit aufgenommen. Die Notfallsituation hat in der Chirurgie zur Folge, daß Betten in Gänge gestellt werden müssen, daß die Relation zwischen Kranken und Pflegepersonal nicht mehr stimmt und Patienten wie Schwestern über Gebühr belastet werden. Solche Härten lassen sich einfach nicht vermeiden.

Unter dem Bettenmangel leiden übrigens die Privatstationen der Chirurgie und Inneren Medizin ebenso wie die allgemeinen Stationen. Oft müssen Kranke, die II. Klasse liegen wollen, zunächst als Notfälle in der allgemeinen Klasse behandelt werden, ehe sie auf Privat umziehen können.

Zum Schluß noch einige Zahlen: 1965 haben die städtischen Krankenanstalten mit ihren 2500 Betten 36 529 Patienten aufgenommen, darunter rund 10 000 in die Inneren Kliniken. Dies sind Tag für Tag 100 Neuzugänge. Zur Zeit stehen rund 120 Betten leer. 100 Schwestern- und Pflegerstellen sind nicht besetzt. Sind Beziehungen nötig, um ins Krankenhaus zu kommen? Unser Aufnahmearzt sagte nur: "Urteilen Sie selbst." Selbstverständlich kommt es ab und zu vor, daß ein abgewiesener Kranker sich an einen Stadtrat wendet und ihm sein Leid klagt. Aber wo kein Bett frei ist, hat auch ein Stadtrat sein Recht verloren.

 

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