27. November 1966: Das Leben im Schatten

27.11.2016, 07:00 Uhr
27. November 1966: Das Leben im Schatten

© Gerardi

"Erschrecken Sie nicht", sagte Sozialreferent Dr. Max Thoma schon am Eingang zu dem Lager, in dem 449 Familien mit 1676 Personen (darunter 799 Kinder) ihr Dasein fristen. Die Besucher sollten nicht erschrecken vor den Kellern, in denen die Lattenzäune der Holzverschläge abgesägt und verheizt werden, sie sollten nicht erschrecken vor dem Klosett mit einem einzigen Waschbecken für 40 Kinder.

Es galt, den Anblick von kleinen Buben und Mädchen zu ertragen, die der Schularzt nicht anzufassen wagt, weil sie ihm zu schmutzig sind, und das Gezänk der Lagerbewohner ("Du bist ja blöd, daß du z‘ammkehrst!") hinzunehmen.

Kein Wunder, daß sich hier der eine Verwalter ein Gallenleiden angeärgert hat, der andere den Bergen von Unrat und den menschlichen Unzulänglichkeiten hilflos gegenübersteht. Kleine Lichtblicke in dieser Finsternis sind keineswegs die Vogelkäfige und Fernsehapparate in den Stuben, in denen vier Menschen zusammengepfercht leben, sondern eher schon die Kindergärten und Schulräume, in denen die Kleinen beim Spielen und Basteln etwas mitbekommen, das ihnen ihr Zuhause nicht zu bieten vermag. "Den Kindern gilt unsere wahre Sorge", meinte Dr. Thoma, "denn die Alten können wir doch nicht mehr ändern!"

Trotzdem möchte die Stadt diese Familien aus den Baracken heraus in einfache Wohnungen führen, sobald sie das Geld dazu hat. Für das Gelände des Schafhoflagers gibt es bereits Pläne für schlichte Häuser mit Ein-, Zwei- und Dreizimmer-Unterkünften. Bei der angespannten finanziellen Lage ist freilich nicht zu erwarten, daß die Stadt bald zur Tat schreiten kann.

Auf der anderen Seite führen gerade die schlechten Behausungen dazu, daß in Nürnberg nur 855 Familien mit 3624 Personen (1891 Kinder) der Obdachlosenfürsorge zur Last fallen, während es in Köln beispielsweise 17.000 Familien sind (nach der Einwohnerzahl dürfte Nürnberg demnach 10.000 haben). "Es ist für eine Großstadt noch erträglich, wenn weniger als ein Prozent ihrer Bevölkerung aus solchen Menschen besteht", sagte Dr. Max Thoma.

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