29. September 1966: Explosion und Sirenengeheul

29.9.2016, 07:57 Uhr
29. September 1966: Explosion und Sirenengeheul

© Ulrich

Mit Blaulicht und Sirene rasten sie in 112 Fahrzeugen zur Breslauer Straße, wo mit "Simcal 66" die größte deutsch-amerikanische Katastrophenübung auf dem europäischen Kontinent simuliert wurde: ein russischer MIG-21-Jäger, dessen Pilot bei seiner Flucht in den Westen auf dem Flugstützpunkt Monteith Baracks notlanden wollte, stürzte mit seiner Maschine auf einen mit 500 Personen besetzten Zug, der sofort explodierte und in Flammen aufging.

Nach genau 88 Minuten wurde die Demonstration abgeblasen: sämtliche 128 Verletzte waren geborgen, ärztlich versorgt und in das US-Hospital und in die städtischen Krankenanstalten in Nürnberg und Fürth abtransportiert, 24 davon mit Hubschraubern. Einsatzleiter Stadtrat Albert Bleistein, der die Übung über Mikrophon dirigierte, frohlockte: "Es hat alles wunderbar geklappt."

29. September 1966: Explosion und Sirenengeheul

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Glockenschlag 9 Uhr nimmt das schreckliche Unglück seinen verheerenden Lauf. Zwei Kanonenschläge detonieren, Arbeiter der Bundesbahn zünden eine mit Öl, Benzin und Magnesiumspänen gefüllte Lok an. Während meterhohe Flammen in die schon rauchgeschwängerte Luft zischen, werden verletzte Soldaten aus den vier Wagen geschleudert. Die Situation ist gespenstisch echt: Verbrennungen, Knochenbrüche, klaffende Wunden, Prellungen und Quetschungen sind von einem BRK-Trupp geschminkt gewesen. Die Verunglückten, zwischen Zugteilen hoffnungslos eingeklemmt, schreien bestialisch, rufen nach ihren Eltern, Freunden und Bekannten.

Von einem Stellwerk des Rangierbahnhofes wird der Alarm ausgelöst. Nach knapp zwei Minuten prescht das erste Polizeifahrzeug mit vier Beamten heran, das in der Nähe auf Streifenfahrt war. Über Funk wird weitere Hilfe angefordert und die ersten Absperrungen organisiert. Dann geht es Schlag auf Schlag. Krankenwagen des BRK, des Arbeiter-Samariter-Bundes, der Johanniter und Malteser, Fahrzeuge der Bundeswehr, der Feuerwehr, MP und des Zivilen Bevölkerungsschutzes rücken an.

Den Ärzten und Sanitätern fällt die Diagnose nicht schwer. Jeder Verletzte trägt deutlich sichtbar einen Zettel, auf dem die Folgen des fürchterlichen Unglücks genau verzeichnet sind: "Kopfwunde und offener Schädelbruch, nicht gehfähig." oder: „Wunde an der unteren Lippe und am Hals, gehfähig!“ Für zehn Soldaten kommt jede Hilfe zu spät. Regungslos liegen sie auf dem Rasen. Auf ihrer Brust prangt ein Papierstreifen: "Tot, Dead". Das hindert einige GI´s aber nicht, in aller Ruhe eine Zigarette zu rauchen oder einen kräftigen Schluck aus einer Whisky-Flasche zu nehmen.

29. September 1966: Explosion und Sirenengeheul

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Die Feuerwehr, nach fünfzehn Minuten mit vier Fahrzeugen an der Unfallstelle, kämpft mit zwei C- und einem Pulverrohr gegen das brodelnde Flammenmeer. 18 Männer mit Preßluft-Atemschutzgeräten dringen in die verwüsteten Eisenbahnwagen vor und bergen Verletzte. Unterdessen schwillt das Heer der Retter weiter an. Eine Abordnung des Zivilen Bevölkerungsschutzes baut in Windeseile Verbandszelte auf, in denen die lädierten Soldaten "verarztet" werden. Auch Bluttransfusionen werden dort eingeleitet. Wenn einer unter den Händen der Helfer zu sterben droht, heißt es militärisch knapp: Hubschrauber-Patient! Sofort wird er zu den schon nach 28 Minuten eintreffenden Helikoptern gefahren und in die Kliniken geflogen. Zwei Maschinen stellt das Heeresflieger-Bataillon in Roth, zwei die US-Armee.

Oberbürgermeister verfolgte die Übung

Während Amtmann Horst Kischke den Einsatz der Polizei leitet, Zu- und Abfahrtswege sperren und Kreuzungen mit Streifenbeamten besetzen läßt, gehen die Kollegen der Kripo an die Arbeit. Sie fahnden nach der Ursache der Katastrophe, stellen die Personalien der Toten fest oder suchen nach "frischen" Spuren. Beim "Toten Nummer 3" notiert der Sachbearbeiter: "Amulett mit dem heiligen Christopherus, Ehering am kleinen Finger, keine Initialen." Als ein Soldat um Hilfe schreit, meint der Beamte: "Tut mir leid, wir kümmern uns nur um Tote..."

Das dramatische Geschehen an der Breslauer Straße, das zu Telephonanrufen vieler Einwohner bei Behörden und Zeitungen geführt hat, wurde von fachkundiger Prominenz aufmerksam verfolgt. Oberbürgermeister Dr. Urschlechter stellte zufrieden fest: "Die Zeitspanne zwischen Alarm und Abtransport der Verletzen war sehr knapp. Das Zusammenwirken zwischen deutschen und amerikanischen Stellen hat ausgezeichnet funktioniert." Kriminaldirektor Dr. Horst Herold: "Es wurde wieder einmal klar, wie umfassend die technischen und personellen Hilfsmittel der Stadt für den Ernstfall sind." Douglas Lindsey, Kommandeur des US-Standort-Lazaretts: "Ich habe einen Sprengstoffunfall in Texas, zwei Wirbelstürme, ein Erdbeben und ein Munitionsunglück in Korea erlebt. Das hier war echt."

In den Krankenhäusern wurden selbst die Vorbereitungen für Operationen und Blutübertragungen getroffen, um Zeitaufwand und Medikamentenbedarf für die Rettung so vieler Verletzter testen zu können.

"Es ist alles reibungslos verlaufen", resümiert Einsatzleiter Albert Bleistein den Verlauf der Übung. "Nur einige Schönheitsfehler sind passiert." In den nächsten Tagen werden im Amt für Zivilschutz die genauen Ergebnisse ausgewertet.

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