31. Juli 1965: Lohntüten in Schülerhänden

31.7.2015, 07:00 Uhr
31. Juli 1965: Lohntüten in Schülerhänden

© Friedl Ulrich

Sie arbeiten einige Wochen. Überall sind sie zu finden. Wir besuchten mehrere „Ferienarbeiter“ und sprachen mit Oberstudiendirektor Dr. Friedrich Renner, dem Ministerialbeauftragten für das Höhere Schulwesen in Mittelfranken, mit Jugendamtsdirektor Karl Maly und mit Johann Neuner, dem stellvertretenden Leiter des Arbeitsamtes, über das „Für und Wider“ dieser Tätigkeit, die Jahr für Jahr einen größeren Umfang annimmt. Das Resultat: Arbeitgeber sind zufrieden; Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Verdienst oft Sonderwünsche erfüllen arbeiten fleißig. Die Jugendlichen sollen aber mindestens 16 Jahre alt sein, ehe sie von der Schulbank zum Arbeitsplatz gehen.

Auf einer Baustelle in Wendelstein werkeln sieben Oberschüler. Ein Nürnberger Bauunternehmer hat sie eingestellt. Heinz-Georg H., Manfred Ch. und Reinhard S. von der 7. und 8. Klasse der Martin-Behaim-Oberrealschule müssen tüchtig zupacken. Die Jungen – schwere Gummistiefel an den Füßen und weiße Helme auf den Köpfen – verteilen Beton, den der Kran in großen Kübeln heranbringt.

Für ein Gespräch bleibt nur die kurze Spanne zwischen zwei gefüllten Tonnen. „Führerschein und Urlaubsreise“, begründet Manfred sein Debüt als Bauarbeiter. „Enthusiasmus!“, ruft Reinhard dazwischen und schmunzelt, so gut gefällt ihm seine Begründung. Heinz-Georg aber deutet an, daß er sich einmal in der Bauwirtschaft seinen Beruf suchen möchte.

Reise nach Frankreich

Zehn Meter tief „unter Tage“ in den Gewölben einer Nürnberger Likörfabrik und Großkellerei steht Wolfgang A. von der Klasse 8b des Realgymnasiums auf großen Fässern. Zwei Wochen lang arbeitet Ute K. von der Klasse 7a der Labenwolfschule an der Flaschenwaschmaschine sowie an der ersten und zweiten Kontrolle einer Getränkefabrik, die einer großen Brauerei angegliedert ist. Ihr gefällt es hier ebensogut, wie dem Abiturienten Günther K., der heuer das Realgymnasium absolviert hat. Er arbeitet nebenan in der Brauerei, um Geld für eine Frankreichreise zu verdienen. Günther möchte sich beim westlichen Nachbarn umsehen, ehe er bei der Bundeswehr antreten muß.

31. Juli 1965: Lohntüten in Schülerhänden

© Friedl Ulrich

Der Anregung der Schule folgten Anita M. und Eva R. von der Löheschule. Vier Wochen lang helfen sie den Schwestern in der Frauenklinik der Städtischen Krankenanstalten; 14 Tage davon gingen von der Schulzeit, 14 Tage von den Ferien ab. Ihre Tätigkeit – sie servieren Mahlzeiten und wickeln unter der Aufsicht der Schwester die Säuglinge – beweist den Gemeinsinn, den viele Jugendliche besitzen.

Margitta B., 18 Jahre jung und ab September Oberprimanerin der Sigena-Oberrealschule, arbeitet dagegen aus „rein materiellen Gründen“. Sie fand einen Platz beim Postamt (V) Nürnberg 2 und trägt mit elf anderen Schülerinnen und 63 Schülern für einige Wochen die Post aus. „Hier verdiene ich gut“, versichert Margitta stellvertrend für ihre „Kollegenschaft von der Schulbank“. Sie muß es wissen, denn sie hat mit der Ferienarbeit schon einige Erfahrungen gesammelt. Nirgendwo aber gefiel es ihr besser als bei der Post.

412 DM für drei Wochen

Kein Wunder, denn diese weiß die heuer erstmals eingesetzte Urlaubsaushilfe gut zu honorieren. Ein 18 Jahre alter Jugendlicher erhält für eine Tätigkeit von drei Wochen 412 Mark, für vier Wochen 550 Mark und für fünf Wochen 687 Mark. Allerdings beschränken sich die meisten Schüler auf ein dreiwöchiges Engagement. Die Post wiederum achtet darauf, daß der „Ersatz“ nicht über Gebühr strapaziert wird. Die Boten nehmen nur so viele Sendungen mit, wie sie ohne sonderliche Mühe tragen können. Der Rest wird hingefahren.

Die Sympathie der jungen Menschen mit der blaugrauen Armbinde mit dem gelben Posthorn für den Arbeitgeber wird von diesem erwidert. „Sie sind vollwertige Kräfte und arbeiten inmitten erfahrener Leute, die sie notfalls fragen können“, erläutert der stellvertretende Amtsvorstand, Postrat Walter Seckl. Der „Chef“ meint obendrein, daß die vollwertige Arbeit das Selbstwertgefühl der Jugend hebt und stellt ihr ein glänzendes Zeugnis aus: „Wir haben uns sehr gefreut, daß sich die Schülerinnen und Schüler in so kurzer Zeit in ihrer neuen Aufgabe zurechtfanden. Wenn die Leistungen weiter so zufriedenstellend bleiben, werden wir sie im nächsten Jahr wieder als Postboten einsetzen.“

Aber nicht nur die Bundespost, auch die anderen Brötchengeber freuen sich über die Hilfe, die aus den höheren Schulen kommt. Oft rechnen sie sogar mit dieser Unterstützung, um Saisonbelastungen und Urlaubsausfälle auffangen zu können.

31. Juli 1965: Lohntüten in Schülerhänden

© Friedl Ulrich

Direktor Johann Neuner erfuhr von den Arbeitgebern, daß die in den Ferien arbeitende Jugend als fließig geschätzt wird und sich in den Betrieben einzuordnen vermag. Wie Postrat Walter Seckl urteilen viele Vorgesetzte positiv:

Oberschwester Margarete von der Frauenklinik: „Wir sind für jede Hilfe dankbar“; Zimmerpolier Josef Sippel: „Man kann nicht die Leistung eines ,Baumenschen´ erwarten, aber wir sind zufrieden“; Braumeister Wilhelm Käferlein: „Sie sind willig. Es dauert nur kurze Zeit, bis sie sich eingearbeitet haben.“

130 Schüler sprachen vor

Beim Arbeitsamt Nürnberg, das Schülerinnen und Schüler an Arbeitsplätze vermittelt, an denen sie nicht überfordert werden und keine lange Eingewöhnungszeit brauchen, wird die Entwicklung genau beobachtet. „Das Interesse an der Ferienbeschäftigung ist gewachsen“, erklärt Direktor Neuner, „die Jugendlichen kommen aus allen sozialen Schichten.“ Das Amt hat notiert, warum sie nicht die ganze Ferienzeit über ausruhen oder lernen möchten. Mädchen wie Jungen wollen verdienen, um sich besondere Wünsche zu erfüllen, eine Reise, ein Tonbandgerät, Bücher, ein Musikinstrument oder – vor allem die jungen Damen – auch Kleider. Manche aber wollen einfach einmal einen Blick in die Welt der Arbeit riskieren. Die Mädchen finden ein Unterkommen in der Elektro- und metallverarbeitenden Industrie, in Lebkuchen-, Bleistift- und Spielwarenfabriken, in der Verwaltung, im Groß- und Einzelhandel sowie – über 18 Jahre alt – im Hotel- und Gaststättengewerbe. Die Schüler leisten leichtere Arbeit in Lager und Werkstatt, an Maschinen. Sie helfen bei der Montage und im Handel. 130 Jungen sprachen heuer beim Amt vor, darunter auch einige Ausländer, die hier zur Schule gehen.

Allerdings tauchen manchmal Schwierigkeiten auf. Einige Vermittlungswünsche blieben unerfüllt, weil die Betriebe bevorzugt „ältere Semester“ für drei oder vier Wochen suchen. Die Jugendlichen beabsichtigen zumeist, zwei, höchstens drei Wochen zu arbeiten und goldene Freiheit zu opfern. Bemerkenswert ist ferner die Beobachtung des Arbeitsamtes, daß die Eltern sehr wohl daran interessiert sind, an welchem Arbeitsplatz ihre Kinder stehen und welche Arbeit sie verrichten müssen; daß sie aber meist mit der Ferienarbeit einverstanden sind. „Man hört nur selten den Einwand, die Jugendlichen könnten überfordert werden“, berichtet Direktor Johann Neuner. Wenn sich die Beschäftigung der Jugend in den Ferien in vertretbaren Grenzen hält, hat auch Oberstudiendirektor Dr. Friedrich Renner nichts dagegen einzuwenden. „Es hat alles seine zwei Seiten. Wenn der Schüler die Arbeitswelt kennenlernt und erfährt, daß es nicht einfach ist, das tägliche Brot zu verdienen, kann das zu seiner geistigen Reife beitragen“, erklärt der Ministerialbeauftragte für das höhere Schulwesen in Mittelfranken. „Er bekommt Achtung vor dem Mitbürger, der – gleich in welcher Stelle – auch etwas leistet.“

Der Pädagoge schränkt jedoch ein: „Am Ende des Schuljahres ist der Jugendliche am Ende seiner Kräfte. Zwar wird ein normal begabter Schüler von der Schule nicht überfordert, aber sie fordert den ganzen Menschen. Deshalb sind die Ferien in erster Linie zur Erholung und zum Nachdenken da.“ Im übrigen rät Dr. Renner allen jenen vom lukrativen Ferien-Job ab, die die Versetzung in die nächsthöhere Klasse gerade noch geschafft haben.

Für sie wäre ein Blick in die Schulbücher angebrachter. Außerdem weist der Oberstudiendirektor der Hans-Sachs-Oberrealschule den Eltern große Verantwortung zu: sie möchten den Umfang der Ferientätigkeit überwachen. Im ähnlichen Sinn äußert sich auch Karl Maly, der Direktor des Städtischen Jugendamtes. „Ein über 15 Jahre alter Schüler, der gesund ist und ordentliche Leistungen in der Schule nachweist, kann einige Wochen arbeiten. Aber die Hälfte der Ferien sollte er wirklich nur für die Erholung verwenden.“ Karl Maly meint, es schade nicht, wenn die Jugend den Alltag des Lohnempfängers kennenlerne. Oberschüler und Gymnasiasten kämen in späteren Berufen ohnehin damit nicht mehr in Berührung. Er hält die Ferienarbeit, wenn sie nicht übertrieben wird, für eine „durchaus tragbare Sache“, die zudem den Vorteil bietet, Geld einzubringen.

Übrigens: der Grundlohn liegt etwas über dem, der für die jugendlichen Dauerbeschäftigten gezahlt wird. Schüler können – so weiß Direktor Neuner – mit Stundenlöhnen zwischen 1,80 und 2,80 Mark rechnen.

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