5. Juni 1965: Eine Schicksalsfrage: die Stadtflucht

5.6.2015, 07:00 Uhr
5. Juni 1965: Eine Schicksalsfrage: die Stadtflucht

© Ulrich

Noch ist die Stadt in der glücklichen Lage, steigende Einwohnerzahlen vermelden zu können, aber es geht längst nicht mehr so steil aufwärts wie vor einigen Jahren. Die „Metropolisation“ – so nennen Stadtforscher den Wegzug von Bürgern in das Umland – fordert auch hier ihren Tribut. Weit fataler äußert sie sich jedoch in Großstädten wie Hannover und Stuttgart, die in einem Jahr mehr als 5.000 Einwohner eingebüßt haben. Mit den Menschen zieht oft auch die Industrie auf das Land. Davon werden die Städte am peinlichsten berührt, weil sie es an ihrem Geldsäckel zu spüren bekommen. Mit jedem Betrieb geht Gewerbesteuer verloren, ein Stück der Haupteinnahmen aller Gemeinden.

Landkreise wachsen

Die gleichen Beweggründe treiben heute Menschen und Unternehmen aus den Städten: die Grundstücke sind „draußen“ viel billiger (während beispielsweise in Fischbach ein Quadratmeter unerschlossen für etwa 20 DM zu bekommen ist, muß man in Nürnberg dafür 50 bis 60 DMark berappen); es gibt mehr Platz; die Wohnlagen sind ruhiger; die Luft ist frischer und reiner. Solche Vorzüge haben dazu geführt, daß in der jüngsten Vergangenheit die Bevölkerungszahlen in den Landkreisen am Rand der Städte so stark gestiegen sind wie nie zuvor in der Geschichte.

Diese Entwicklung hat die Städte auf den Plan gerufen, die sich ernsthaft Sorgen um ihr Schicksal machen. Lange Zeit hatten sie es nicht nötig gehabt, über ihr Wachstum nachzudenken oder gar zu klagen, neuerdings freilich zerbrechen sich ihre verantwortlichen Männer den Kopf darüber. Wenn sich nicht verhindern läßt, daß die Leute außerhalb der Grenzen siedeln, so soll doch wenigstens der „Steinstadt ohne Leben“ entgegengewirkt werden. Fast wichtiger noch als der Bau von Trabantenstädten oder Siedlungen im Grünen erscheint es den Planern, wieder Leben in die Cities zu bringen.

Nürnberg hat erkannt, daß es seine Chancen am besten im Zusammenspiel mit dem Nachbarn wahren kann. „Das Thema ,Leben in der Stadt? Leben in der Stadt!´ müßte eigentlich ,Leben mit der Stadt´ heißen“, sagt Baureferent Heinz Schmeißner. Die Fischbacher oder Schwaiger leben zwar nicht in, wohl aber mit der Stadt Nürnberg. Daher müsse das Planungsdenken weit über die Stadtgrenzen hinausgehen. So sehr die Gemeinden ringsum größer und stärker werden, so sehr brauchen sie weiterhin Nürnberg als wirtschaftliches, kulturelles und geistiges Zentrum.

Ruf nach Reformen

Diese Rolle kann von der Stadt aber nur gespielt werden, wenn sie das nötige Geld hat. Eines der Hauptprobleme bei der Hauptversammlung wird wieder die Frage der Finanzreform sein, die den Städtetag schon unendlich lange beschäftigt. Es ist selbstverständlich, daß die Städte nicht auf der einen Seite weniger Steuern einnehmen können und auf der anderen Seite größere Aufgaben aufgebürdet bekommen. Im Nürnberger Krankenhaus liegen beispielsweise 27 v. H. Patienten aus anderen Gemeinden, für die der hohe Zuschuß (14 Millionen) mitgeleistet werden muß.

Die Finanzreform wird gewiß noch ein gutes Weilchen auf sich warten lassen, wie die Erfahrung lehrt. Immerhin haben das Land Bayern und der Bund schon erkennen lassen, daß sie den Städten unter die Arme greifen wollen, wenn sie ihre schwierigen Verkehrsprobleme lösen. Für die Schnellstraße und auch die geplante Unterpflaster-Bahn darf Nürnberg mit finanziellen „Spritzen“ rechnen. Doch es könnte noch mehr Geld gebrauchen, als ihm schon versprochen worden ist. Daher meint Schmeißner: „Es ist eine alte Platte – die Verkehrssanierung ist nur mit neuen Rezepturen in erträglicher Zeit durchzuziehen!“

Doch die Planer sind sich auch darüber klar, daß mit modernen Verkehrswegen allein die Städte nicht attraktiver zu gestalten sind. Schlagworte wie „Die wohlgeformte Stadt“ oder „Die geordnete Stadt“ lassen erkennen, daß höhere Ziele angestrebt werden. Über den endlosen Schlangen von Blech, die in allen Straßen zu sehen sind, soll der Mensch nicht vergessen werden. Er ist erst wieder richtig entdeckt worden, als die Cities abends nach sechs Uhr öd und verlassen waren.

Leben in die City

Nürnberg kennt diese besondere Gefahr zwar noch nicht, will sich aber jetzt bereits davor schützen. „Unter sturer Auslegung der Flächennutzungs-Verordnung dürften nur noch Hausmeister in den Zentren wohnen“, erklärt Baureferent Schmeißner und deutet an, daß ihm solche Sturheit fremd ist. „Wir brauchen bauliche Dichte, damit die City belebt bleibt; wir müssen eine Kombination von Büro- und Geschäftshäusern mit Wohnungen anstreben! Nürnberg hat noch einige Möglichkeiten, Fehler und Sünden der Vergangenheit gutzumachen. Wenn der Ostast der Schnellstraße vom künftigen großen Knotenpunkt an den Rampen hinter den Bahngleisen bis zur Allersberger Straße durchgezogen wird, sollen ganze Viertel ein neues Gesicht bekommen. In Langwasser will man auch davon abgehen, „reinrassige“ Ladenzentren zu schaffen, in denen sich von abends bis früh keine Menschenseele aufhält. „Hier werden wir Geschäftshäuser mit mehrgeschossigen Wohnungsbauten mischen“, versichert Schmeißner.

„Wildwuchs“ gehört dazu

Leben in der Stadt? – diese Frage ist trotzdem aufgeworfen und kann nicht wegdiskutiert werden. Leben in der Stadt – das bedeutet heute oft genug Leben in Rauch, Ruß, Lärm und unhygienischen Verhältnissen. Die Fachleute hoffen zuversichtlich, daß ihnen das Städtebau-Förderungsgesetz ein Instrument in die Hand geben wird, manches oder auch alles zum Besseren zu ändern.

Die Bauverwaltung scheint sich herablassen zu wollen, in Zukunft weniger sklavisch als vorher auf den Buchstaben des Gesetzes zu pochen. Sie hat erkennen müssen, daß sich neue Siedlungen nicht allein am Reißbrett schaffen lassen und dann Wohlbehagen bei ihren Bewohnern verbreiten. Das vielgeübte Schema F ist der Tod allen städtischen Lebens. Ein gewisser Wildwuchs gehört zu den Cities. „Architektonische Ungereimtheiten, wie sie sich oft durch Zufall ergeben haben, bedeuten nicht von vornherein Häßlichkeit.“, sagt Stadtrat Schmeißner. Schließlich wachse auch nicht jeder Baum nach dem Idealbild. Über Vor- und Nachteile der Großstadt mögen Fachleute rechnen soviel sie wollen, das Urteil fällt allein der Bürger. Keinem ist mit einer Stadt gedient, in der niemand leben will.

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