5. September 1965: „Hereinspaziert, die Herrschaften“

5.9.2015, 07:00 Uhr
5. September 1965: „Hereinspaziert, die Herrschaften“

© Gerardi

Umsonst sind die deftige Geräuschkulisse und das bunte Panorama entlang der Budenstraßen. Viele „Klekerlessummen“ werden ausgegeben. Tiefer greifen die Schausteller in die Tasche; sie berappen Steuern für die Lustbarkeit. Selber sind sie gar nicht lustig, wenn der Beamte vom Finanzamt kommt, denn ihren Geschäftserfolg bestimmt das Wetter, und das ist ihnen bisher nur selten gnädig gewesen. Von Tag zu Tag hoffen sie auf mehr Besucher, die dem „Spaß an der Freud“ huldigen und damit ihr Gastspiel auch honorieren . . .

Sauertöpfische Mienen zeigt jedoch kaum jemand von den Volksfestakteuren; der Redefluß ins Mikrophon wächst, je zäher das Geschäft zu machen ist. „So etwas sehen Sie nicht alle Tage!“, ruft die 40jährige Liliputanerin vom Podest und weist die Schauhungrigen auf den Zirkus im Hintergrund hin, der sich in einer originellen Stadt kleiner Menschen abspielt. Für ihre weinrote Frackweste mit goldenen Tressen hat diese Frau, der Intelligenz aus den Augen spricht, kaum einen Viertelmeter Samt gebraucht. Sie mißt ganze Einmeterzehn.

Das Unternehmen, das sie so unermüdlich anpreist, kann nicht nur neuerdings den Anspruch erheben, das einzige und größte in Europa zu sein, es hat auch in seiner Art einen alten Ruf auf Vergnügungsplätzen. Liliputaner wissen das und servieren ihre Darbietungen ähnlich „spritzig“ wie die Lebkuchenhersteller, die große und kleine Herzen als Festsouvenir jetzt häufiger mit „Steiler Zahn“ verziert an den Mann bringen als mit der altmodisch wirkenden Forderung „Vergiß mich nie!“

Lange brauchen die Frauen, mitten in den Straßen stehend, die bunte Luftballons, Windrädchen und „Blasschlangen“ anbieten, um dann und wann einmal ein solches Attribut der Festfreude zu veräußern. Die Ausländer, die am meisten kaufen, haben bei ihnen einen Stein im Brett. Ohne Brett, aber in einem Käfig angekettet, „arbeitet“ der Superstar in der Schaubude der „Balderini“ aus München. Die seltsame Dame hat einen zweieinhalb Meter langen Hals, bläst Trompete und ißt Bananen. „Gibt´s das wirklich?“, staunt eine Bäuerin, die gerade von der benachbarten „Frankenschau“ kommt und stürzt hinein. Als sie die Schaubude verließ, war sie der Rätsel noch immer voll.

Geheimnisvoll ist noch mehr in diesem Reich, das aber auch Eis und Bratwürste, Enzian und Bier, Emmentaler und Backhendl anbietet: Flöhe, ganz hundsgemeingewöhnliche, bestreiten allein ein Unterhaltungsprogramm, Tücher verschwinden aus den Taschen harmloser Betrachter, schnelle Autos kippen bei kühnen Kurven der „Wilden Maus“ nicht um – und in der „Metro-Bahn“ fliegen einem gar Eier ins Gesicht, ohne dort aufzuschlagen! Was ist da, zwischen Tucher- und Siechenzelt, los?

Bei dieser Volksfest-Attratkion, für die der 60jährige Augsburger Kinotechniker Karl Kohler – ein mehrfach „patentierter Mann“ übrigens – gerade steht, wird man in geschlossenen Stromlinienkabinen, die im Zick-zack-Kurs durch mehrere Projektionstunnel fahren, mit Messern, Hämmern, Mäusen, Spinnen und Fußbällen beworfen. Man zuckt zurück – und staunt über dieses 3-D-Verfahren ohne Brille, denn durch die polarisierenden Sichtscheiben in den ratternden Autos sind die verblüffend plastischen Kurzfilme garantiert. Lachend steigen die Mitreisenden aus.

Gelacht und gestaunt wird überall am Volksfestplatz. „Wat Schönres kann´s jar nicht jeben!“, sagen Berliner Ferienreisende. Bei den Schaustellern sind sie nicht als Preußen verschrien. „Wir freuen uns über jeden, der kommt!“, sagt die Kassiererin einer auf amerikanisch getrimmten Schau. „Die Hauptsache, er zahlt!“

Verwandte Themen


Keine Kommentare