8. Dezember 1962: Formulare, von der Wiege bis zur Bahre

8.12.2012, 06:57 Uhr
8. Dezember 1962: Formulare, von der Wiege bis zur Bahre

© Gerardi

Dabei hätten hier alle im Spiel der Zahlen erfahren können, wie sehr der anonyme Begriff „Stadt“ eine Rolle für ihr Leben spielt. Einem guten Hausvater gleich legte – freilich in größerem Stile – der Stadtkämmerer vorausschauend das Geld für die Ausgaben des nächsten Jahres beiseite: für Kindergärten und das Krankenhaus, für Schulen und den Schlachthof, für Theater und den Tiergarten und vieles, vieles mehr. So erweist sich der Haushaltsplan beinahe als überdimensionales Wirtschaftsbuch eines Vaters, die Stadt mit ihren Bürgern aber als eine große Familie.

 Das dicke Etatbuch mit 425 Seiten und einem Gewicht von 430 Millionen DM gleicht einem Katalog, der jedem etwas bieten und auf den jeder zur irgendeiner Zeit auch zurückgreifen muß. Ihr vielfältiges Angebot bezeichnet die Stadtverwaltung als „Daseinsvorsorge“. Wenn der Haushaltsplan von Jahr zu Jahr bunter wird und immer mehr Zuschüsse enthält, so machen sich in ihm am ehesten die wachsenden Ansprüche der Bürger bemerkbar.

Vom ersten Tag seines Lebens an stehen dem Bürger viele städtische Einrichtungen offen, die er sich aus eigener Kraft nie und nimmer leisten könnte, die er aber der steuerzahlenden Gemeinschaft verdankt. Mit der Frauenklinik, in der immer mehr Nürnberger Kinder das Licht der Welt erblicken, fängt die Geschichte an. Als eine von vielen Kliniken in den Krankenanstalten bekommt auch sie ihr gutes Stück von 11 Millionen DM, die jährlich „zugebuttert“ werden müssen. Auf diese Weise wurden – wenn man so will – mehr als 4000 junge Erdenbürger noch in den Babyschuhen öffentlich gefördert.

Weil der Andrang in der Frauenklinik zusehends stärker wird, können sich Mütter und Kinder nicht mehr solange dort aufhalten wie früher. Das hat der Stadtveraltung schon manch hartes Wort der Kritik eingetragen; sie zerbricht sich auch bereits den Kopf darüber, wie sie den Wünschen gerecht werden kann. Erst ein zweites, gewiß nicht billiges Krankenhaus kann dieses Problem lösen.

8. Dezember 1962: Formulare, von der Wiege bis zur Bahre

© Gerardi

Die meisten Jungbürger verbringen wenigstens ihre ersten Lebensjahre in der Familie; nur in wenigen Ausnahmen müssen Säuglinge schon in ein Heim, weil sich sonst niemand ihrer annehmen will. Sobald aber die Kleinen stubenrein und gesellschaftsfähig sind, führt vielfach täglich ihr Weg in einen der vielen Kindergärten, die von der Stadt unterhalten oder zumindest unterstützt werden. Vor allem berufstätige Mütter, die durch ihre Mitarbeit oft nur den Lebensstandard der Familie heben helfen, sind heilfroh, wenn sich ihrer Buben und Mädchen jemand annimmt. Es ist gerade ein Zeichen dieser Zeit, daß viele Familien ihre Kinder nicht mehr selbst erziehen wollen, sondern lauthals nach Kindergärten rufen.

Mit der Zuckertüte in der Hand lernen die Sechsjährigen ihre Stadt ganz und gar als Erzieher kennen: in der Volksschule, die ohne ein einziges neues Gebäude im nächsten Jahr fast 6 Millionen DM kostet, beginnt ihr Lebens-Abc. Doch auch höherem Streben stehen Türen und Tore offen: von der Gewerbemittelschule über Mädchen-Oberrealschulen, Berufsoberschulen bis zum Konservatorium der Musik und dem Kindergärtnerinnenseminar.

Vom Theater bis zur Müllabfuhr

Der Bürger im Beruf braucht aber auf Bildung ebenso wenig zu verzichten wie auf Müllabfuhr und Feuerschutz. Die Stadtbibliothek und die Volkshochschule dienen jung und alt zur geistigen Erbauung; die Theater, denen mit sechs Millionen kräftig unter die Arme gegriffen wird, und die Kunstsammlungen bieten anspruchsvolle Erholung vom Alltags-Einerlei. Selbst noch der letzte Affe im Tiergarten ist städtisch subventioniert.

Wer noch höher hinaus will, mag in der Sternwarte und im Planetarium in weite Fernen schweifen. Von solchen Ausflügen wird ein jeder jedoch bald wieder in der rauhen Wirklichkeit erwachen, wenn seine Mülleimer überquellen. Der Stadt selbst wächst der Müll zwar auch schon förmlich über den Kopf, aber Woche für Woche schickt sich ihre grünen Wagen aus, um den Unrat einzusammeln. Obwohl sie dabei noch mit einem Zuschuß von nur einer halben Million davonkommt, hat sie beachtliche Sorgen. Einmal fehlen ihr oft die Arbeiter für diese Zwecke, zum anderen aber die Plätze. Der Platznot soll eine Verbrennungsanlage abhelfen, die 25 Millionen kosten und den Stadtsäckel nicht minder stark belasten wird wie die repräsentative Konzerthalle.

Die Straßenreinigung, der Schlachthof und selbst noch die Bedürfnisanstalten sind „Draufzahlgeschäfte“ unter den vielgewünschten „öffentlichen Einrichtungen“. Aber die Stadt kümmert sich auch darum, daß keinem der rote Hahn aufs Dach steigt (4,3 Millionen) und genügend Wasser für die Badeanstalten da ist. Ihre Sorge gilt unter dem Kapitel „Mütterberatung“ und „Schulzahnklink“ den Milchzähnen der Kleinen genauso wie der Gesundheit der Großen.

Damit sonst keiner unter die Räder kommt, bietet sie ein großes Aufgebot von Polizeibeamten auf, das für 9 Millionen dem Bürger Sicherheit auf allen Wegen geben soll. Bis in die Familie reichen die Fühler der Verwaltung, wenn einzelne nicht auf eigenen Beinen stehen können und die Hilfe der Allgemeinheit brauchen.

Solange es dem Menschen gut geht und er sich selbst helfen kann, mag er die vielen Einrichtungen kaum beachten oder als ganz selbstverständlich hinnehmen. Viele alte Leute haben aber in der jüngsten Vergangenheit die bittere Erfahrung machen müssen, daß sie am Ende ihres Lebens von ihren Familien nur noch geduldet werden. Es ist merkwürdig, daß gerade im Zeichen eines üppigen Wohlstands Kindern und Alten das gleiche Schicksal widerfährt: man hat keine Zeit und oft genug nicht einmal ein Plätzchen für sie. Daher werden von jener Öffentlichkeit, die sich aus den Steuerzahlern rekrutiert, immer energischer Kindergärten und Heime gefordert; man schiebt die Verantwortung auf die Behörde ab. So nimmt es denn nicht wunder, daß die Altersheime – viele sind in den letzten Jahren gebaut worden – nicht ausreichen und bis an den Rand gefüllt sind. Obendrein muß die Stadt für sie im nächsten Jahr 1,8 Millionen ausgeben.

Die hohen Personalkosten, die beinahe die Hälfte des Haushalts ausmachen, rühren aber gerade auch von den Löhnen für das Pflegepersonal her, nicht allein – worüber sich viele gerne mockieren möchten – von den Beamten in den Rathäusern. Wer aber nicht bereit ist, für seine Angehörigen selbst zu sorgen, muß wenigstens amtlichen Pflegern einen gerechten Lohn zugestehen.

So steckt hinter den nüchternen Zahlen des Etats ein gut Teil des Lebens dieser Stadt, die noch Geld ausgibt, um – über die Chemische Untersuchungsanstalt – in die Kochtöpfe ihrer Bürger zu schauen. Die amtlichen Aufgaben sind so bunt wie das Leben selbst. Sogar die traurigen Kapitel, Leiden und Tod, werden im Plan der Verwaltung zu Ziffern (siehe: Bestattungsamt).

Stadtkämmerer Dr. Dr. Zitzmann hat in seiner großen Rede gemeint, daß eine Reihe von Einrichtungen wie das Bestattungsamt „Gruppen von Bürgern oder einzelnen dieser in besonderen Maße zum Vorteil gereicht“. Daß die Stadt so vielfältige Aufgaben hat, ist nicht zuletzt Schuld der Bürger, die bei jeder Gelegenheit nach Amtshilfe schreien. Sie dürfen sich dann nur nicht wundern, wenn sie verwaltet werden – nach dem Motto: „Von der Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare . . .“

Aus den Nürnberger Nachrichten vom 8./9. Dezember 1962

 

 

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