9. Oktober 1965: Giganten aus Stahl und Beton

9.10.2015, 07:00 Uhr
9. Oktober 1965: Giganten aus Stahl und Beton

© Gertrud Gerardi

Die Nürnberger Architekten gehen allmählich hoch hinaus. 40, 50 und mehr als 60 Meter messen die Häuser, die in den letzten Jahren entstanden sind. Aus Tonnen von Beton und Stahl geformt, bieten sie den Bewohnern viele Annehmlichkeiten. Es gibt Waschsalons für die Hausfrauen, großzügig bemessene Abstellräume und Müllschlucker, die allerdings keine sperrigen Kisten und Schachteln fressen. Der Familienvorstand braucht sich im Winter weder um Kohlen noch um Heizöl zu kümmern, weil die Wärme ohne sein Zutun aus der Ferne ins Haus kommt. Von der luftigen Höhe schweift der Blick weit über die Stadt. Trotzdem gehen die Meinungen der Nürnberger – insbesondere über Wohnhochhäuser – auseinander. Während die einen fast verächtlich vom „Silo“ sprechen, träumen andere davon, eines Tages auch im Turm zu wohnen. Vielleicht haben sie das Hochhaus-Gefühl schon kennengelernt, weil sich ihr Arbeitsplatz in einem himmelragenden Gebäude befindet, in dem es ihnen gefällt.

Als nach dem Krieg die Stadt Nürnberg vor der Aufgabe stand, dem Plärrer eine neue Gestalt zu geben, bildete das vor mehr als zehn Jahren vollendete, 56 Meter hohe Verwaltungsgebäude der Städtischen Werke den verheißungsvollen Auftakt. Wie ein klarer Kristall ragt es in die Höhe und bildet den Abschluß des Platzes und der fünf Kilometer langen Fürther Straße.

Nur das 15. Obergeschoß mit dem weit ausladenden Dach und die zum Plärrer abgewinkelte Eingangspartie lockern das Gebäude auf, dem Planer, Architekt Dipl.-Ing. W. Schlegtendal, durch ein erprobtes Mittel jegliche Härte nahm. Er zog die vier Seiten vom fünften Stockwerk an um einen Zentimeter je Geschoß nach innen, so daß sich das Plärrer-Hochhaus bis zum Dach um je zehn Zentimeter auf jeder Seite verjüngt.

9. Oktober 1965: Giganten aus Stahl und Beton

© Gertrud Gerard

Die Nürnberger haben sich längst an den Stahlbeton-Skelettbau gewöhnt, auch wenn er – so meint der Architekt – noch „ziemlich verquer- und überdimensioniert an der jetzt noch unklaren Abgrenzung des Platzes steht“. Wenn aber das freie Gelände rings um den Plärrer einmal bebaut sein wird, fügt sich auch das Hochhaus reibungslos ein, das schon jetzt gleich einem optischen Signal jedem die Nähe der mauerumwehrten Altstadt ankündigt; bei Nacht noch überwältigender als am Tage, weil der 12 m hohe Lichtmast dann die Krönung bildet und Scheinwerfer das blaue Vordach des 15. Stockwerkes anstrahlen.

Wer in dem Gebäude, das damals rund sieben Millionen reine Baukosten verursacht hat, hinter die Kulissen schaut, dem bietet sich Imponierendes: Kilometerlange Rohr- und Kabelleitungen durchqueren den Bau, in den jährlich rund 2,5 Millionen Kilokalorien Wärme fließen.

Wegen der freien Lage gibt es vier Heizgruppen, die je nach der Windrichtung und der Sonnenbestrahlung einreguliert werden können. Zur Sicherheit des Hauses und der darin arbeitenden Menschen – rund 1000 – ist ständig eine Feuerlöschpumpe mit einer Leistung von 120 Kubikmeter in der Stunde einsatzbereit.

Für Besucher faszinierend ist der Blick von einem Wohnhochhaus im Südosten der Stadt, in der Parkwohnanlage Zollhaus. Mit 48 Metern überragt es alle anderen Gebäude. Wie im Plärrer-Hochhaus gibt es eine Drucksteigerungsanlage, um eine reibungslose Wasserversorgung zu gewährleisten. Die Bewohner des Hauses finden zahlreiche technische Einrichtungen, die ihnen das Dasein erleichtern: Abstellräume für Kinderwagen und Fahrräder, Müllschluckanlage und ein Sicherheitstreppenhaus, das so gebaut ist, daß es im Brandfall niemals verqualmen kann.

9. Oktober 1965: Giganten aus Stahl und Beton

© Gertrud Gerardi

Auf dem Reißbrett von Architekt Gerhard G. Dittrich, der das Hochhaus in der Bundesbahn-Wohnanlage Zollhaus mit 90 Eineinhalb- und Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen entwarf, entstanden auch die benachbarten Giganten in der Wohnanlage Neuselsbrunn, in der Angehörige der Bundespost insgesamt 702 Wohnungen der verschiedensten Größen erhalten.

Städtebauliche Überlegungen, von kundiger Hand gemixt mit den Wünschen der Baugesellschaft und übertragen auf das zur Verfügung stehende Gelände ergaben eine interessante Mischung: viergeschossige Blöcke, 15geschossige Türme und 22geschossige Scheibenhäuser die inzwischen der Stadt Nürnberg einen Rekord eingebracht haben, denn mit 62 Meter Höhe sind die Scheibenhäuser die höchsten Wohnbauten in Süddeutschland.

Die Einrichtung und die von den Hausbewohnern gemeinsam benutzten Räume entsprechen dem gewohnten Standard. Neu entwickelt wurde dagegen die Fassadenverkleidung, die an Häusern herkömmlicher Größe an einem Lattenrost befestigt wird. Weil aber in Bayern die Verwendung von Holz an Hochhäusern verboten ist, wurde ein neues System ausgeknobelt, das zwischen der Hauswand und den Platten einen Zwischenraum frei läßt. Zusammen mit den Fugen zwischen den einzelnen Verkleidungsplatten entsteht ein Kamin, in dem die vorbeistreichende Luft die Innenwand stets trocken hält. Eine andere Fassade wählte der Architekt Adolf Dunkel für die hohen Häuser in Reichelsdorf, die eine städtebauliche Dominante im südwestlichen Teil der Stadt bilden und vom Siedlungswerk Nürnberg errichtet worden sind.

Die 14 Stockwerke hohen, schmuck aussehenden Bauten am Heilbronner Platz halten für Nürnberg den zweiten bayerischen Rekord. Sie sind innerhalb der weiß-blauen Grenzpfähle die einzigen Hochhäuser, die ausschließlich in Sichtziegel-Mauerwerk gebaut wurden. Das bietet ähnliche Vorteile, wie die „Kamin-Methode“ in Neuselsbrunn, nämlich hervorragende Wärmedämmung, keinen Unterhalt für den Außenputz und keine Schallübertragung.

Für den Bau der drei, jeweils 43 Meter hohen Häuser waren 2,7 Millionen Ziegel erforderlich. Sie enthalten 21 Kilometer Rohrleitungen für die Installation und Fernheizung sowie ein eigenes, modernes Feuerlöschnetz. Am Ende bleibt ein neuer Stern im Kranz der Nürnberger „Wolkenkratzer“. Vor wenigen Tagen erst ist das Verwaltungsgebäude des Fränkischen Überlandwerkes – geplant von dem Schwabacher Architekten Erwin Rogler – seiner Bestimmung übergeben worden. Das Haus am Platz der Opfer des Faschismus ergänzt mit einer Höhe von 43 Metern ideal die benachbarten Flachbauten der Meistersingerhalle und der höheren Schulen. Selbst bei der Wahl der Fassadenverkleidung wurde auf die Nachbarschaft Rücksicht genommen. Die Südseite ziert Aluminium, die großen Flächen im Westen und Osten werden durch hellen Rauchkristall-Naturstein belebt.

Sicherlich ist der Bau von Hochhäusern ein wichtiger Beitrag zur Beseitigung der Wohnungsnot. Allerdings können nicht an jeder beliebigen Stelle unmotiviert solche Giganten platziert werden. Ihr Standort ist eine Frage städtebaulicher Überlegungen und der richtigen Wohnungsmischung, vor allem in Neubaugebieten. Deshalb wird gerade in Langwasser in den nächsten Jahren noch einiges über den Hochhausbau zu hören und zu sehen sein.

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