Andreas Köpke: "Unser Anspruch ist der Titel"

9.6.2016, 05:58 Uhr
Andreas Köpke:

© Andreas Gebert (dpa)

Herr Köpke, was bekommen Sie zu hören, wenn Ihnen in irgendeinem Stadion Gareth Southgate begegnet?

Andreas Köpke (lacht): Wenn ich so überlege - ich habe ihn seit dem legendären Halbfinale von 1996 nur einmal getroffen. Wir haben uns freundlich begrüßt, ein paar Nettigkeiten ausgetauscht und natürlich auch über diesen Elfmeter gesprochen. Ganz bittere Sache für ihn, für uns natürlich super, danach war der Weg frei zum Titelgewinn. Aber komischerweise habe ich spontan andere Bilder vor Augen als das Elfmeterschießen gegen England, wenn ich an 1996 denke.

"Wir obenauf, die Engländer deprimiert"

Welche denn?

Köpke: Als Erstes fällt mir der gehaltene Elfmeter beim 0:0 gegen Italien in der Vorrunde ein, der uns den Gruppensieg gesichert hat. Zum Halbfinale gegen England kommen eher die Bilder danach, als das altehrwürdige Wembley-Stadion beide Teams mit Standing Ovations gefeiert hat. Wir obenauf, die Engländer deprimiert. Das war im Prinzip das vorweggenommene Finale. Natürlich haben sich auch die Bilder von Oliver Bierhoffs Golden Goal verfestigt, und natürlich die Pokalübergabe mit der Queen.

Was war denn das Erfolgsgeheimnis dieser Truppe?

Köpke: Die mannschaftliche Geschlossenheit. Wir hatten großes Verletzungspech, doch die Rückschläge haben uns zusammengeschweißt. Vom Zusammenhalt innerhalb der Truppe, der Mentalität, der Willensstärke und von der Auswahl der einzelnen Spielertypen her kann man den Kader von 1996 durchaus mit dem der WM 2014 in Brasilien vergleichen.

Wird das 20-jährige Titeljubiläum eigentlich gefeiert?

Köpke: Ja, zum Polen-Spiel sind alle eingeladen. Die Truppe von 1996 trifft sich ohnehin immer mal wieder. Wir sind schließlich die Letzten, die den Europameistertitel für Deutschland gewonnen haben. Wird Zeit, dass sich das ändert.

Weltmeisterliche Favoritenrolle

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Köpke: Unser Anspruch ist der Titel, gar keine Frage. Als Weltmeister fährst du als Favorit zur EM, und die deutsche Mannschaft ist ohnehin immer auf der Liste der üblichen Verdächtigen. Das 4:1 gegen Italien im März war noch mal eine Ansage und wichtig für unser Selbstvertrauen. Denn die Qualifikation lief etwas holprig, nach dem WM-Sieg haben unsere Gegner noch mehr Gas gegeben. In einigen Spielen haben wir uns nicht belohnt, daran müssen wir arbeiten. Doch ich bin überzeugt, dass wir in Frankreich wieder unser wahres Gesicht zeigen und eine sehr gute EM spielen werden. Wir wollen wieder bis zuletzt dabei sein und sind bereit, das Finale zu spielen. Zwei Turniere hintereinander zu gewinnen, das haben ja noch nicht viele geschafft.

Unter anderem Deutschland, 1972 und 1974. Nach Erfolgen werden aber oft auch Fehler gemacht. Was ist nach dem EM-Titelgewinn 1996 schiefgelaufen?

Köpke: Die WM 1998, bei der ich selbst noch im Tor stand, war so schlecht nun auch wieder nicht – trotz des Viertelfinal-Aus gegen Kroatien. Da ist vieles unglücklich gelaufen. Die folgenden Auftritte bei den EM-Turnieren 2000 und 2004 waren sehr enttäuschend. Glücklicherweise war man dann gezwungen, etwas zu tun. Maßnahmen einzuleiten, die man in der erfolgreichen Zeit nicht für notwendig erachtete: intensive Talentförderung zu betreiben, Nachwuchsleistungszentren ins Leben zu rufen.

"Das waren Millimeterentscheidungen"

Auf Ihrem Spezialgebiet, bei den Torhütern, ist der DFB seit jeher gut aufgestellt. Wie schwer war es, sich auf die beiden Keeper hinter Manuel Neuer festzulegen?

Köpke: Das waren Millimeterentscheidungen, da war auch Bauchgefühl dabei. Bei ter Stegen wird oft kritisiert, dass er nur in der Champions League und im Pokal spielt, dann wieder zwei, drei Wochen nicht. Aber es ist auch so, dass er dann, wenn er gefordert ist, auf den Punkt da ist, das hat er in Barcelona permanent bewiesen. Diese Fähigkeit ist auch ganz wichtig bei einem Turnier. Leno hat in der Rückrunde auf einem großartigen Niveau gespielt, aber auch Trapp oder Zieler hätten es verdient gehabt. Wir können nun mal nur drei mitnehmen. Aber alle vier Torhüter hinter Neuer sind noch relativ jung, haben die besten Torhüterjahre wahrscheinlich noch vor sich.

Leno-Lapsus: "Abgehakt"

Die unglücklichen Auftritte von Bernd Leno und Marc André ter Stegen im Test gegen die Slowakei haben kurz vor dem Turnier eine Debatte ausgelöst, frei nach dem Motto: "Hoffentlich passiert dem Neuer nichts . . ." Mussten Sie die beiden aufbauen?

Köpke: Nein, ich musste sie nicht wieder aufbauen. Leno konnte sich kaum auszeichnen und war bei den Gegentoren machtlos. Mit ter Stegen habe ich über den Fehler, bei allerdings irregulären Bedingungen, gesprochen und ihn aufgearbeitet. Damit ist es ist abgehakt.

Wie beurteilt der Bundestorwarttrainer den erstmaligen Einsatz der Torlinientechnik bei einem EM-
Turnier?

Köpke: Absolut positiv! Ein Schritt, den ich sehr begrüßte, denn es steht so unglaublich viel auf dem Spiel. Klar, bei technischen Neuerungen muss man aufpassen, dass man den Fußball in seinen Ursprüngen nicht kaputtmacht. Aber die Erfahrungen mit dem Hawk Eye in der zurückliegenden Bundesligasaison hat gezeigt, dass diese Technik das Spiel nicht zerreißt. Es waren letztendlich wenige Szenen, die in Erinnerung bleiben – und hinterher herrschte Klarheit. Ich gehe sogar weiter und würde in einer vernünftigen Anwendung auch den Videobeweis befürworten.

Nürnbergs Torwart-Hero weiß: "So wie früher, als man gesagt hat, eine EM ist schwieriger zu gewinnen als eine WM, ist es nicht mehr".

Nürnbergs Torwart-Hero weiß: "So wie früher, als man gesagt hat, eine EM ist schwieriger zu gewinnen als eine WM, ist es nicht mehr". © Weigert

Neu bei der EM ist auch der Modus mit 24 Teilnehmern. Verwässern Außenseiter wie Island oder Albanien das Niveau?

Köpke: Ich freue mich ja für diese Länder, die zum ersten Mal ein großes Turnier spielen dürfen. Die muss man auch erst mal schlagen. Es wird sicher Überraschungen geben, ähnlich wie im DFB-Pokal. Aber so wie früher, als man gesagt hat, eine EM ist schwieriger zu gewinnen als eine WM, ist es nicht mehr. Vor vier Jahren hatten wir Portugal, Holland und Dänemark in der Vorrundengruppe – alles Teams unter den Top Ten. Selbst nach den ersten beiden Siegen waren wir noch nicht sicher im Viertelfinale! Diesmal musst du im Prinzip nur ein Spiel gewinnen, dann bist du wahrscheinlich als Dritter weiter. Es ist schon so, dass das große Feld das Niveau etwas verwässert.

Marseille, die Kinder und Platini

Wenn Deutschland und Gastgeber Frankreich bis dahin ihrer Favoritenrolle gerecht würden, käme es im Halbfinale zum großen Nachbarschaftsduell. Für Sie persönlich wäre das wohl das Spiel der Spiele . . .

Köpke: Klar, aber für mich ist das Turnier in Frankreich ohnehin etwas ganz Besonderes. Ich habe das Land in den knapp drei Jahren in Marseille lieben gelernt. Da haben wir noch ein Haus, meine Frau wird die EM dort verfolgen. Die Kinder sind dort groß geworden, wir haben die Sprache gelernt und viele neue Freunde gefunden. Es ist jedesmal so, als würde man nach Hause kommen. Michel Platini wohnt übrigens ganz in der Nähe, aber den trifft man dort eher selten.

Was fasziniert Sie so an Frankreich?

Köpke: Es scheint fast immer die Sonne, das Leben spielt sich meist im Freien ab. Im Süden hat man das Meer vor der Tür. Für mich war es etwas ganz Besonderes, dort Fußball spielen zu dürfen, wo andere Urlaub machen.

Hat Sie die Zeit auch sportlich vorangebracht?

Köpke: Auf jeden Fall. Ich musste mich beweisen, bekam auch als Europameister nichts geschenkt. Immerhin sind wir im zweiten Jahr fast Meister geworden. Sportlich war das für mich eine super Zeit, wahrscheinlich meine beste überhaupt.

Importware: Eine "gewisse Lockerheit" hat Köpke aus Frankreich mitgebracht.

Importware: Eine "gewisse Lockerheit" hat Köpke aus Frankreich mitgebracht.

Und persönlich? Haben Sie Alltägliches von Frankreich nach Franken importiert?

Köpke: Vielleicht eine gewisse Lockerheit. Ich habe für mich einen Mittelweg gefunden, manches nicht ganz so ernst zu nehmen und über gewisse Dinge hinwegzusehen. Bei einigen Dingen ticke ich aber immer noch typisch deutsch. Wenn beispielsweise jemand zu einer Verabredung eine halbe Stunde zu spät kommt, stört mich das ungemein.

Bei der EM wird Geduld auch gefragt sein – Stichwort Sicherheit. Wie wird sich Frankreich präsentieren vor dem Hintergrund der Terrorangst?

Köpke: Als großartiger Gastgeber! Alle Stadien sind fantastisch. Die Franzosen sind ein fußballverrücktes Volk. Die Fans trauen der eigenen Elf traditionell zwar nicht allzu viel zu, aber wenn der Ball erst mal rollt, erlebt man stimmungsvolle Fußballfeste. In puncto Sicherheit werden die Behörden alles Menschenmögliche tun, um für Sicherheit zu sorgen. Absolute Garantien gibt es leider nie. Ich persönlich bin nicht so der ängstliche Typ, sonste dürfte ich auch in Nürnberg nicht auf die Blaue Nacht gehen.

Trotzdem haben sich die Ereignisse von Paris am 13. November 2015 wohl in Ihr Gedächtnis eingebrannt . . .?

Köpke: Es war nicht so, dass wir in den Katakomben Todesangst hatten. Trotz der brutal bedrückenden Situation hat man sich schon irgendwo sicher gefühlt. Man hat die Bilder von draußen gesehen und gar nicht realisieren können, was da los ist. Es kam einen vor, als würde ein Katastrophenfilm im Fernsehen laufen. Absolut haften geblieben ist die fantastische Art und Weise, wie sich die Franzosen uns gegenüber verhalten haben. Trainerstab und Spieler waren ständig bei uns, man hat uns sogar angeboten, mit in ihr Quartier zu fahren.

"Diese Nacht hat uns zusammengeschweißt"

Also gelebte deutsch-französische Freundschaft?

Köpke: Auf jeden Fall. Wir haben uns später bei der Gruppenauslosung besonders herzlich begrüßt. Diese Nacht hat uns zusammengeschweißt.

 

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