Archivalien sind wie Zeitmaschinen

18.11.2016, 14:41 Uhr
Archivleiterin Andrea Schwarz zeigt ihr Lieblingswerk aus dem Bestand des Landeskirchlichen Archivs in Nürnberg.

© Philipp Rothenbacher Archivleiterin Andrea Schwarz zeigt ihr Lieblingswerk aus dem Bestand des Landeskirchlichen Archivs in Nürnberg.

Wer an Kirchenarchiv denkt, hat wohl erst mal Bilder von staubigen, alten Büchern in dunklen, engen Kellern im Kopf. Doch das moderne Gebäude an der Veilhofstraße, in dem das Landeskirchliche Archiv mitsamt großer Bibliothek untergebracht ist, hat rein gar nichts mit diesem Klischee zu tun. Bis auf die alten Bücher, die es in der zentralen Fachbehörde für Fragen des kirchlichen Archivwesens tatsächlich gibt. Und zwar zu Tausenden. 18 Kilometer umfassen die gelagerten Bücher und Archivalien insgesamt, würden sie aneinander gereiht. Eine ganze Menge. Und trotzdem sagt Archivleiterin Andrea Schwarz: „Alles Kinder, die wir lieben.“

Denn jede Archivalie ist einzigartig. Als Schwarz von den Schätzen erzählt, leuchten ihre Augen. „Jeder Historiker sehnt sich nach einer Zeitmaschine.“ Die Bücher und Akten sind wie „Fenster in das Mittelalter“. Als die Archivleiterin dies erklärt, nimmt sie behutsam ihr Lieblingswerk aus einem der zahlreichen langen Regale in dem Magazin. So nennt sie die Räumlichkeiten, in denen das Archivgut bei geeigneter Temperatur und in einer peniblen Ordnung aufbewahrt wird. Das große Kettenbuch mit dem dicken Holzeinband fasst Schwarz nicht an, ohne sich vorher die obligatorischen weißen Stoffhandschuhe übergestreift zu haben. Sie möchte schließlich kein Risiko eingehen, das unbezahlbare Stück zu beschmutzen. Das Buch aus dem 15. Jahrhundert handelt von der berühmten Sebaldus- Legende, die die Lebensgeschichte vom Heiligen Sebaldus von Nürnberg erzählt. Eine Initiale – also der aufwendig verzierte Anfangsbuchstabe auf einer Seite – soll gar magische Wirkung haben. Wer sie berührt, soll einen Schutzsegen erfahren, heißt es. Dieser Glaube kam den Menschen im dunklen Mittelalter gerade Recht, erläutert die Archivleiterin.

Einmal habe sie das Werk auch einer Besuchergruppe gezeigt, erinnert sie sich. Als sie sich kurz wegdrehte und sich ein Kind unbeobachtet gefühlt hatte, habe es schnell an der Initiale gerieben, um sich einen Segen zu holen. Obwohl anfassen natürlich streng verboten ist, konnte die Historikern nicht anders, als darüber zu schmunzeln. Für die Versicherung mussten sie und ihre Mitarbeiter schätzen, wie viel Wert ein solches Unikat hat. Doch dies sei im Grunde unmöglich: „Viele dieser Bücher gibt es nur einmal auf der Welt. Sie sind zwar nicht materiell wertvoll, aber sie sind einzigartig.“

Andere Archivalien wiederum dienen der Ahnenforschung, die immer gefragter ist. Vor allem Menschen im Rentenalter hätten dieses Hobby für sich entdeckt, erklärt Kirchenarchivrat Daniel Schönwald. Gerade im Alter besinnen sich viele ihrer Vergänglichkeit und beginnen, sich für ihre Vorfahren zu interessieren. „Geschichte kann spannend sein, wenn man sie zum Sprechen bringt.“ Und gerade Familienforschung kann zur unendlichen Geschichte werden: Der Archivmitarbeiter erlebt oft, dass die Hobbyforscher immer mehr über ihre Vorfahren wissen wollen, wenn sie erst mal Blut geleckt haben. Erfahren diese zum Beispiel auf einmal, dass der Großvater fünf Geschwister hatte, dann wollen sie noch mehr von diesem erfahren. Für die Nachforschungen verbringen sie dann viel Zeit im öffentlichen Lesesaal. „Viele können nicht mehr aufhören“, so Schönwald. Auch, weil es im Archiv immer wieder Neues zu entdecken gebe. „Deshalb ist es der spannendste Ort, den es gibt.“

In dem umfangreichen Bestand des Landeskirchlichen Archivs finden sich Bestattungs-, Tauf-, Trauungsbücher sowie Kirchenbücher aus über 500 Pfarrämtern in Bayern. Die Sammlungen reichen bis in das Mittelalter zurück. Daneben sind hier unter anderem Bilder, Plakate, Zeitungsausschnitte, Videos und Nachlässe von bekannten Persönlichkeiten aus dem Kirchenwesen verwahrt. Doch auch aus der Gegenwart kommen immer neue Akten hinzu: So werden auch Rechnungen und Haushaltsbücher aus ganz Bayern hier gesammelt. „Wir müssen ja transparent sein, damit die Leute wissen, was mit der Kirchensteuer passiert“, erzählt Schwarz.

Kein Wunder, dass das Archiv seit seinem Bau im Jahr 1931 bereits zwei Mal in immer größere Gebäude umziehen musste. Seit 2013 ist es nun auf über 8800 Quadratmetern in sieben Stockwerken an der Veilhofstraße untergebracht. Damit ist es eines der größten Kirchenarchive und Kirchenbibliotheken im Land. Der 19 Millionen teure Neubau wurde größtenteils aus Kirchensteuern finanziert. „Zukunft braucht Herkunft“, findet Schwarz. Sie versichert: „Für die nächsten 50 Jahre reicht das Gebäude auf jeden Fall aus.“

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