Betrug in der Pflege: "Auch menschlich eine Katastrophe"

5.2.2018, 05:55 Uhr
Betrug in der Pflege:

© Foto: Britta Pedersen, dpa

Diese Zahlen teilte Dominik Schirmer, der bei der AOK als Bereichsleiter Verbraucherschutz fungiert, der Nürnberger Zeitung auf Anfrage mit. Seine Krankenkasse stellte für Bayern im Berichtszeitraum 2016/17 immerhin 728 neue Betrugsfälle mit einer Schadenssumme von 2,14 Millionen Euro fest. Zum Vergleich: 2014/15 gab es lediglich 386 Neufälle und einen Schaden von 670.260 Euro. Die NZ hat mit Schirmer über die Entwicklung gesprochen.

Herr Schirmer, 2016 sorgte der organisierte Pflegebetrug bundesweit, aber auch hier in Bayern, für Schlagzeilen. Seither sind die Zahlen sogar massiv nach oben gegangen. Hat sich die Situation noch verschlimmert?

Dominik Schirmer: Der Gesetzgeber hat damals relativ schnell reagiert und uns neue Kontrollmöglichkeiten an die Hand gegeben. Bis 2016 hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Qualität der Pflege geprüft, nicht jedoch die Abrechnungen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat dann die Grundlage geschaffen, dass der MDK sich die Abrechnungen anschauen darf. Es geht jetzt also bei den Prüfungen auch darum, ob die Pflege vertragskonform abgerechnet wird.

Dann ist die kriminelle Energie nicht größer geworden, aber durch die neuen Kontrollmechanismen kommt mehr ans Licht.

Schirmer: Genau, wir können nun mehr Fälle identifizieren. Außerdem ist durch die Medienberichterstattung rund um die russische Pflegemafia das Interesse der Öffentlichkeit gestiegen, die Angehörigen schauen genauer hin. Das hat nichts mit Denunziation zu tun, jede Handwerkerrechnung wird genau geprüft. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass
die Fallzahlen gestiegen sind.

Betrug in der Pflege:

© Foto: AOK Bayern

Welche Methoden wenden Pflegedienste an, wenn sie betrügen wollen?

Schirmer: Die klassischen Betrugsmethoden – und ich rede jetzt nicht von den gravierenden Fällen – sind zum Beispiel, dass Pflegedienste Leistungen abrechnen, die gar nicht erbracht wurden. Man rechnet beispielsweise drei Besuche ab, aber es haben nur zwei stattgefunden. Man rechnet eine Ganzkörperpflege ab, dabei war es nur eine kleine Morgentoilette. Man sagt, man habe dem zu Pflegenden Kompressionsstrümpfe angezogen, dabei wissen wir, das macht er selbst oder das macht die Tochter jeden Abend.

Oder man ist bei Zeitabrechnungen großzügig, ist eine halbe Stunde vor Ort und lässt sich eine Stunde quittieren. Wenn in einem Haus zum Beispiel vier Menschen betreut werden, die bei unterschiedlichen Kassen versichert sind, wird die einmal erfolgte Anfahrt zum Haus viermal in Rechnung gestellt.

Tauschen sich die Kassen nicht aus?

Schirmer: Doch. Inzwischen hat die Arbeitsgemeinschaft der Kranken- und Pflegekassen in Bayern eine Task-Force zum Thema Abrechnungsbetrug in der Pflege eingerichtet, auffällige Dienste werden dort gemeldet.

Sie sagten, es gebe noch gravierendere Vorgehensweisen als die eben geschilderten.

Schirmer: Ja, dabei handelt es sich um Betrug in der ambulanten Intensivpflege. Der nimmt rapide zu. Es geht um viel Geld, die Versorgung in der Intensivpflege kostet 20 000 Euro im Monat. Aber es geht auch wirklich um Leben und Tod. Denn "ambulante Intensivpflege" heißt in der Regel: Die Menschen sind zu Hause und werden auch beatmet. Die Anforderungen an die Qualität der Versorgung sind besonders hoch. Und da ist in den Verträgen definitiv festgelegt, dass nur fachlich qualifiziertes Personal zum Einsatz kommen darf, also Pflegefachkräfte mit dreijähriger Ausbildung und einer Zusatzausbildung. Ein häufiges Muster ist, dass uns gegenüber diese Fachkräfte abgerechnet werden, aber Hilfskräfte im Einsatz sind.

Arbeiten die Angehörigen mitunter auch mit den Pflegediensten beim Betrug zusammen?

Schirmer: Ja. Ein zweiter Klassiker neben dem Einsatz der Hilfskräfte ist, dass Angehörige und Pflegedienst sich bei einer 24-Stunden-Pflege die Versorgung teilen. Dass die Angehörigen sagen, zwischen 22 und 8 Uhr müsst ihr niemanden schicken. Abgerechnet werden aber 24 Stunden. Angehörige und Pflegedienst teilen sich dann das Geld.

"Qualvoll für die Betroffenen"

Gegenüber den Pflegebedürftigen ist das doch verantwortungslos.

Schirmer: Beim Beatmen der Menschen ist eine hohe fachliche Kompetenz nötig, um in Notfallsituationen eingreifen zu können. Wir haben die Situation, dass Hilfskräfte und Laien schwerste invasive Maßnahmen durchführen. Das ist oft qualvoll für die Betroffenen, also unter menschlichen Gesichtspunkten eine Katastrophe.

Haben Sie auch mit Patienten zu tun, die betrügen?

Schirmer: Mitunter stellen sich Personen hilfloser dar, als sie es sind, um einen höheren Pflegegrad zu erzielen. Das geht von Betroffenen und ihren Angehörigen aus, aber es gibt auch Deals mit betrügerischen Pflegediensten. Die geben Tipps, wie man sich gegenüber dem MDK verhält, um einen höheren Pflegegrad zu bekommen. Danach teilt man sich das zusätzliche Geld. Es kommt aber gerade in der russischen Community vor, dass auch noch der Arzt an Bord ist. Denn im Fall der häuslichen Krankenpflege zahlt die Krankenkasse, da brauche ich den Arzt, der diese Pflege verordnen muss.

Sie sprechen die russische Community an, auch 2016 war viel von "russischer Pflegemafia" die Rede.

Schirmer: Man hat ein Betrugspotenzial in gleichsprachigen Zirkeln, wenn beispielsweise Dienste, Angehörige und zu Pflegende einen russischen Hintergrund haben oder aus dem Balkan stammen. Aber Betrug in der Pflege ist kein "Ausländerthema", es gibt auch viele deutsche Pflegedienste, die betrügen.

Wünschen Sie sich weitere Instrumente, um gegen die Betrügereien vorgehen zu können?

Schirmer: In der besagten Task-Force arbeiten wir mit den anderen Kassen an einem Positionspapier. Dazu nur zwei Stichpunkte: Wir würden uns eine bundesweite Betrugsdatenbank wünschen, damit wir straffällig gewordene Dienste erfassen und uns gegenseitig darüber unterrichten können. Wenn wir in Neu-Ulm (in Bayern, Anm. d. Red.) einen betrügerischen Pflegedienst ermitteln, dann ist das bisher oft so, dass der sich dort abmeldet und in Ulm (Baden-Württemberg, Anm. d. Red.) wieder anmeldet. Die zweite Forderung ist, dass wir die Anbieter hinsichtlich ihres Personals abfragen dürfen. Wenn ein Pflegedienst nur Hilfskräfte und kaum Fachkräfte beschäftigt, kann man sich ausrechnen, dass da etwas nicht stimmt.

2016 war bei den Betrugsfällen mehr von Augsburg und München die Rede als von Nürnberg.

Schirmer: Ich nehme in Bayern ein Nord-Süd-Gefälle wahr, aber vielleicht ist es uns auch einfach im Süden besser gelungen, Fälle zu identifizieren. Sowohl was Staatsanwaltschaft als auch was die Polizei angeht, ist der Süden beim Thema Betrug im Gesundheitswesen besser aufgestellt.

Der Pflegeberuf kämpft um ein gutes Image, um mehr junge Leute zu gewinnen. Diskreditiert das Thema Pflegebetrug die Branche?

Schirmer: Wir sprechen keinen Generalverdacht gegen Pflegedienste oder Angehörige aus. Wir wissen, Angehörige sind oft extrem belastet. Wir verunglimpfen keine Branche. Wenn wir gegen die Betrüger aktiv vorgehen, tragen wir zum Image derjenigen bei, die ihre Arbeit ehrlich machen. Die meisten Dienste arbeiten korrekt, aber wir wenden unsere Energie auf, um die zu verfolgen und zu bestrafen, die es nicht tun.

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