"Da sein, zuhören und die Ohnmacht mit aushalten"

24.10.2016, 07:36 Uhr

© Foto: Armin Weigel/dpa

Frau Öhring, warum ist es so wichtig, Eltern auch zu Hause nicht alleine mit ihrem Schicksal zu lassen?

Anja Öhring: Die Begleitung von Familien, deren Kinder zu früh das Licht der Welt erblickten, die schwer krank sind, eine Behinderung haben oder sogar sterben müssen, ist in der Kinderklinik sehr intensiv. Doch auch diese Kinder werden früher oder später entlassen. Die Eltern gehen zum Beispiel mit Monitor nach Hause, der ein Signal gibt, wenn das Kind nicht ausreichend versorgt ist. Viele haben zur Ernährung eine Magensonde, bei den meisten ist die Prognose, wie sie sich entwickeln oder ob sie überleben werden, offen. Die Eltern sind zerrissen, Gefühle überlagern sich: Angst, Sorge, Wut, Hoffnung und Verzweiflung bis hin zur Hilflosigkeit. Für mich war es unvorstellbar, dass diese Familien auf sich allein gestellt entlassen werden und so entwickelte ich vor einigen Jahren das Konzept der Seelsorge in der Nachsorge.

Ihr Angebot richtet sich auch an Eltern, die ein Kind verloren haben.

Öhring: Ja, wir stellten schnell fest, dass wir das Angebot der Nachsorge auch auf die Frauenklinik ausweiten müssen. Für Familien, die aufgrund einer Tot- oder Fehlgeburt ihr Kind verloren haben. Sie müssen sich folgende Situation vorstellen: Die Eltern kommen nach Hause, wo ein fertig eingerichtetes Kinderzimmer darauf gewartet hat, mit Leben gefüllt zu werden. Die Seifenblase mit allen Wünschen und Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit dem Kind ist geplatzt.

Wie können Sie helfen, Menschen in so tragischen Situationen aufzufangen?

Öhring: Da sein! Zuhören und die Hilflosigkeit und Ohnmacht mit aushalten. Der Verlust eines Kindes ist unfassbar. Ich habe gemerkt, dass die Eltern etwas brauchen, um sich festzuhalten, nachdem sie das Wertvollste gehen lassen mussten. Wenn möglich, geben wir den Eltern einen bronzenen Engel bereits in der Klinik mit. Man kann ihn sehen, er liegt schwer in der Hand und kann auch wehtun, wenn man die Hand zu fest schließt. Es entspricht dem, wie die Eltern sich fühlen.

© Foto: Eduard Weigert

Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Öhring: Ich verwende oft eine Kerze als Symbol für das Kind. Sie kann auch einen Rahmen stecken: Wenn die Kerze brennt, ist bewusst Zeit für das Kind. Man kann sie dennoch ausblasen und in den Schrank stellen und sie sich dann holen, wenn man sie braucht. Zudem kann die Kerze gestaltet werden. Viele Mütter erleben dies ähnlich wie die Grabpflege. Es ist etwas, was sie für ihr Kind tun können. Genauso kann ein Trauerbuch helfen. Eltern können Bilder einkleben, Briefe und Gedanken an das Kind schreiben. Alles, was sie ihm sagen wollten, aber nie konnten.

Trauern Väter und Mütter unterschiedlich?

Öhring: Müttern hilft oft, über das Erlebte und das verstorbene Kind zu sprechen, während sich die Väter häufig in Aktionismus stürzen, sei es in der Arbeit oder im Sport, und so ihr Ventil für die Trauer finden. In diesen Situationen fühlen sich die Frauen alleingelassen. Nicht selten trennen sich solche Paare. Meist sind es die Mütter, die das Angebot der Seelsorge in der Nachsorge für sich nutzen. Ich freue mich immer wieder, wenn Paare gemeinsam entscheiden, sich seelsorgerlich begleiten zu lassen.

Wie reagieren Freunde und Verwandte?

Öhring: Das soziale Umfeld kann damit häufig nur schwer umgehen und geht meist schnell zur Tagesordnung über. Sätze wie „Es ist doch jetzt schon drei Wochen her“ oder „Wer weiß, wozu es gut war“, sind keine Seltenheit. Alle Eltern reden gerne über ihr Kind, auch Eltern, die ihres verloren haben. Das ist aber ein Tabu. Manchmal gibt es ein Foto von dem Kind, aber wem kann man schon ein Bild von einem toten Kind zeigen? Betroffenen hilft es sehr, wenn sie mir das Bild zeigen können.

Was ist, wenn Geschwisterkinder betroffen sind?

Öhring: Es ist in jedem Fall wichtig, auch den Geschwistern genügend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, denn oft fühlen sie sich schuldig für den Tod des Kindes, weil sie zum Beispiel während der Schwangerschaft auch mal dachten: „Ach, eigentlich will ich gar kein Brüderchen, da muss ich Mama und Papa ja teilen.“ Sie sind dann sehr dankbar, wenn man ihnen dieses schlechte Gewissen nimmt. Ich bastle mit ihnen gerne an der bereits beschriebenen Kerze, weil sie da einerseits etwas für das verstorbene Geschwisterchen tun können. Zum anderen fällt es Kindern leichter, über das, was sie bedrückt, zu sprechen, wenn sie nebenbei etwas werkeln können.

Wie finden Eltern Zugang zu Ihrem Angebot?

Öhring: Es hat sich bewährt, dass ich zu den Familien den Kontakt aufgenommen habe und diese nicht selber aktiv werden mussten. Das heißt, wenn es in der Klinik seelsorgerliche Begleitung gab, bekommen die Patienten meinen Flyer mit der Bitte, sich das Angebot anzusehen. Sie werden informiert, dass ich dann in etwa zwei Wochen anrufen werde, um zu erfragen, ob sie das Angebot annehmen möchten. Darüber sind die Eltern sehr dankbar. Viele haben mir berichtet, wie wichtig dieser Weg für sie war, da sie es aus eigener Kraft nicht geschafft hätten, auf mich zuzukommen.

Ist die ambulante Nachsorge zeitlich begrenzt?

Öhring: Den zeitlichen Rahmen setzen die Eltern selbst. Manchen reicht ein Gespräch, andere begleite ich auch ein halbes Jahr und länger, oft sogar über Jahre hinweg, dann aber nur noch punktuell.

Und wie wird das Angebot finanziert?

Öhring: Die Arbeit wird ausschließlich durch Spendengelder finanziert.

Sie beschreiben sich selbst als fröhlichen Menschen. Wie schwer ist es für Sie, das Leid der anderen mitzutragen?

Öhring: Es ist oft schwer, gerade wenn man selber Mama ist. Trotzdem ist es immer noch das, was ich von ganzem Herzen mache. Ich bekomme von den Familien so viel zurück und es ist immer wieder schön zu sehen, wie sie ins Leben zurückfinden und manchmal sogar noch ein Kind bekommen.

Infos zur Klinikseelsorge

Die Seelsorge in der Nachsorge des Kinderzentrums ist ein Angebot der ökumenischen Klinikseelsorge am Südklinikum in Kooperation mit dem Eltern-Kind-Zentrum und dem Verein „Klabautermann“. Spendenkonto: Klinikseelsorge Notaufnahme e.V., IBAN: DE43 7520 6041 0000 3503 550, BIC: GENODEF 1EK1, Kontakt: Telefon: (09 11) 3 98 50 11, E-Mail: anja.oehring@klinikum-nuernberg.de Am 11. Dezember findet um 18 Uhr in der Johanneskirche in Eibach ein Gedenkgottesdienst statt für Eltern und Angehörige, die ein Kind verloren haben.

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