Die große Ratlosigkeit nach dem Abitur

26.7.2016, 19:43 Uhr
Die große Ratlosigkeit nach dem Abitur

© Fotos: Claudia Urbasek/Michael Fischer

Was tun? Rund 39 000 junge Menschen in Bayern stehen jetzt vor einem neuen Lebensabschnitt, etwa 1400 sind es in Nürnberg. Sie müssen eine erste große Entscheidung fällen: Wie soll der Start in die berufliche Zukunft aussehen?

„Es ist heute viel schwerer für die Schulabgänger geworden, ihren Weg zu finden“, sagt Gabriele Kuen, die Leiterin des Behaim-Gymnasiums. „Die Bandbreite an Möglichkeiten ist sehr groß.“ Stichwort Studium: „Früher gab es Jura, Medizin und so weiter. Heute aber existieren sehr viel mehr Spezialhochschulstudiengänge.“ Zwar werde den Schülern in der Oberstufe eine Berufsorientierung angeboten, aber das reiche nicht aus. Und schließlich: Viele junge Leute nehmen sich erst einmal eine Auszeit. „Vielleicht ist es auch das Richtige, zunächst ein halbes Jahr auf Reisen zu gehen oder ein freiwilliges soziales Jahr zu absolvieren. Das kann sicher wertvoll sein.“

Doch mit Blick auf das G 8 fügt Gabriele Kuen hinzu: „Ich weiß aber nicht, ob ein Jahr mehr an der Schule nicht doch wertvoller wäre.“ Jedenfalls habe sich eine Hoffnung der Wirtschaft nicht erfüllt, die das G 8 nährte: „Die jungen Leute steigen nicht schneller in den Beruf ein als zu Zeiten des G 9.“ Viele begännen ein Studium und wechselten dann wieder.

Die Fachrichtung zu finden, die einem liegt, ist in der Tat nicht einfach. Bundesweit gibt es rund 18 000 Studiengänge. Marina Helbig, die Leiterin der zentralen Studienberatung an der Technischen Hochschule in Nürnberg (TH), rät dazu, sich in jedem Fall rechtzeitig zu informieren. Am besten schon im letzten Schuljahr vor dem Abitur. „Man sollte sich mit sich als Person beschäftigen und dann recherchieren, was es für Möglichkeiten gibt. „Dann muss man sich auch nicht unter Druck entscheiden.“

Die große Ratlosigkeit nach dem Abitur

Die Studienberaterin warnt vor Pauschalisierungen. „Es gibt kein Standardrezept und keine Empfehlung, die für jeden passt. Was ihr ganz wichtig ist: „Jedes Beratungsgespräch verläuft anders, weil jeder Mensch, jede Biografie, jede Familie anders ist. Man muss jeden Einzelfall betrachten.“ Die jungen Menschen, die zu ihr kommen, manchmal mit Eltern, manchmal alleine, stehen an einem Punkt in ihrem Leben, der viel Unsicherheit erzeugt: „Es ist eine Zeit der Veränderungen. Es geht um den ersten Weg in den Beruf.“

Wichtig sei, das zu tun, was man selbst will, und nicht, was die Eltern wollen, sagt Astrid Bergmeister, die Leiterin der Hochschulkommunikation an der TH. Auch vom Freundeskreis sollte man sich nicht beeinflussen lassen. „Die Generation, die jetzt an die Hochschulen kommt, ist die erste, die nicht zu etwas gedrängt wird“, sagt Marina Helbig. „Dass man das machen soll, was auch Mutter oder Vater schon gemacht hat, gibt es kaum mehr. Das ist doch toll. Man darf für sich entscheiden.“ Die meisten jungen Leute, die zu ihr kämen, seien sehr motiviert und gut informiert. Manchmal kommt in den Beratungsstunden auch das Thema Ausbildung zur Sprache. „Für manche passt es einfach besser, erst eine Lehre zu machen und dann zu studieren.“

"Das bringt einen vorwärts"

Sabine Heindl-Wenk, die Leiterin des TH-Studierendenmarketings, hält durchaus auch eine Pause nach dem Abitur für sinnvoll. Zum Beispiel, um zu reisen. „Ich würde das sogar empfehlen, denn es prägt sehr und bringt einen vorwärts.“

Zumindest gefühlt tut das gerade jeder Zweite. Kein Abschlussjahrgang, in dem sich heute nicht ein beträchtlicher Teil der Absolventen erst einmal ans Jobben, Weltreisen oder soziales Engagement macht. „Wir nehmen das auch so wahr“, sagt Amelie Hack, Teamleiterin der Freiwilligendienste beim Internationalen Bund (IB) in Nürnberg. „In einer Schule, in der es die ganze Zeit um Wissen geht, steht die berufliche Orientierung im Hintergrund.“ Ein freiwilliges soziales Jahr, der Bundesfreiwilligendienst oder ein Freiwilligendienst im Ausland, wie sie der IB vermittelt, könnten dabei sehr helfen.

Überrannt werden die Programme deshalb aber nicht. Die Bewerberzahlen beim IB steigen zwar seit zehn Jahren, jedoch aus verschiedenen Gründen. Allen voran die Abschaffung des Zivildienstes 2011. Die Pflege, Alten- und Krankenhilfe musste sich stärker für Freiwillige öffnen – mehr Stellen erzeugen mehr Nachfrage. Viele Interessenten bewerben sich allerdings mehrfach, beobachtet Amelie Hack. Die Zahl derer, die dann auch tatsächlich einsteigen, liegt beim IB in Nürnberg jährlich stabil zwischen 200 und 250 Teilnehmern.

Soziales Jahr als Karriere-Baustein

Zwei Drittel sind weiblich. Und: Das Freiwilligenjahr ist offenbar kein reines Bildungsbürger-Phänomen mehr. Die Bewerber stammten mittlerweile aus unterschiedlichsten Schul- und Ausbildungszweigen, berichtet Hack. Auch die Anzahl der Interessenten aus dem Ausland wachse.

Im „Weltwärts“-Programm des Bundesentwicklungsministeriums, dem Dach für entwicklungspolitische Freiwilligendienste im Ausland, gehen mittlerweile dreimal mehr Bewerbungen ein, als dann tatsächlich Freiwillige ausreisen. Im vergangenen Jahr waren es 3400 junge Erwachsene, der überwiegende Teil von ihnen mit dem frischen Abi in der Tasche.

Wer sich für die soziale Auszeit nach der Schule entscheidet, tut dies durchaus bewusst und nicht nur aus Überforderung bei der Berufswahl. In einer Evaluierung 2011 gaben nur 24 Prozent der befragten „Weltwärts“-
Teilnehmer als Motivation die Ungewissheit über den weiteren Lebensverlauf nach der Schule an, vier Prozent benannten einen fehlenden Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz als Antrieb.

Amelie Hack vom Internationalen Bund in Nürnberg stellt bei ihren Bewerbern vielmehr ein „Bedürfnis nach Sicherheit“ fest. Viele Teilnehmer am freiwilligen sozialen Jahr hätten schon eine soziale oder medizinische Berufswahl im Auge, wollten aber die Arbeit zunächst einmal konkret ausprobieren.

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