Die Türkei-Wahl beschäftigt auch Nürnbergs Deutsch-Türken

24.6.2018, 05:59 Uhr
Die Türkei-Wahl beschäftigt auch Nürnbergs Deutsch-Türken

© Foto: Volkan Altunordu

Kadim Sahin atmet auf, als er hört, dass der Turkish-Airlines-Flieger am Münchener Flughafen endlich abgehoben hat. An Bord der Maschine sind weder Angehörige noch Freunde Sahins. Dem Vorsitzenden des sozialdemokratischen Vereins CHP Nordbayern in Nürnberg geht es nur um ein paar schnöde Säcke voll Papier, die ihn und andere politisch Engagierte in den vergangenen Wochen viel Zeit und Energie gekostet haben.

In den versiegelten Säcken sind 54.386 Stimmzettel, mit denen Türken aus ganz Nordbayern über die Zusammensetzung des Parlaments in Ankara und den künftigen Präsidenten der Türkei abstimmen. Dort werden sie am Sonntagabend auch ausgezählt.

Abgegeben wurden die Wahlzettel allesamt in Cadolzburg, wo das türkische Generalkonsulat Nürnberg – wie berichtet – ein zentrales Riesen-Wahllokal für knapp 66.000 wahlberechtigte Türken aus Nordbayern und Thüringen eingerichtet hatte. Im Gegensatz zu den 27.193 Männern und Frauen, die hier nur kurz zum Wählen vorbeischauten, war Kadim Sahin allerdings nicht nur einmal vor Ort.

Als Repräsentant der CHP musste er — ebenso wie die Vertreter weiterer türkischer Parteien sowie zahlreiche Mitarbeiter des Konsulats — dort 13 Tage lang die Stellung halten, um einen korrekten Wahl-Ablauf sicherzustellen.

Schon länger auf Achse

Auf Achse ist der Sozialdemokrat schon länger, da der türkische Wahlkampf in Franken bereits seit Mai läuft. Sahin und seine Genossen haben in den vergangenen Wochen ein halbes Dutzend Info-Stände im Raum Nürnberg organisiert.

Sein Fazit aus den Begegnungen mit den Wählern: "Die Stimmung ist sehr gut. Unser Kandidat Muharrem Ince reißt die Menschen einfach mit. Viele, mit denen wir geredet haben, sagen, dass sie ihn wählen werden, obwohl sie bisher eine der anderen Parteien unterstützt haben."

Sahin ist nicht der Einzige, der Wechselstimmung wittert. Auch Hulusi Kocak glaubt, dass Präsident Recep Tayyip Erdoðan am 24. Juni nicht wiedergewählt wird. Ablösen werde ihn im Amt jedoch nicht der Sozialdemokrat Ince, ist Kocak überzeugt, sondern Meral Aksener. Die Uni-Dozentin und Gründerin der rechtskonservativen Iyi Parti (Gute Partei) tritt bei dem Rennen um das höchste Staatsamt als einzige Frau an.

Obwohl es ihre Partei erst seit vergangenem Jahr gibt, ist sie dank Kocak und seinen Mitstreitern unübersehbar in Nürnberg: Sie haben 25 Wahlplakate in der Stadt aufgestellt, auf denen Akseners Konterfei prangt.

Auffällig viele Frauen an Wahlständen

Zu den Info-Ständen, die ihre Nürnberger Anhänger ebenfalls organisiert haben, kamen auffällig viele Frauen, die offen bekannten, dass sie "Erdoðan endlich loswerden" wollen. "Mit Angst können wir ja auch nicht gewinnen", sagt Kocak, der aus seiner eigenen Abneigung gegenüber Erdoðans Politik keinen Hehl macht.

Die Türkei-Wahl beschäftigt auch Nürnbergs Deutsch-Türken

© Foto: privat

Schon beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr warb er öffentlich für ein "Nein" – und bekam prompt die Quittung dafür, wie er ebenfalls berichtet. "Bei meiner nächsten Einreise in die Türkei befragten mich Polizisten, warum ich Kampagnen gegen Erdoðan führe."

Den türkischen Präsidenten abwählen will aber nicht nur er, sondern auch Atilla Polat von der Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei). Die islamistische Partei, deren Info-Stände er organisiert hat, tritt zwar mit der Iyi Parti und der CHP im Bündnis an, sei aber trotzdem etwas Besonderes – und aus deutscher Sicht die beste Option für die Türkei: "Wir sind die Einzigen, die einen EU-Beitritt ablehnen, wir wollen stattdessen eine Partnerschaft, wie sie auch Kanzlerin Merkel vorschlägt."

Zwar liegt die Saadet Partisi in Umfragen unter drei Prozent. Selbstbewusst ist man trotzdem: "So Gott will, werden wir in Nürnberg mehr als dreimal so viele Stimmen bekommen wie 2015", sagt Polat, "also mindestens 500."

Pro-kurdische Partei hat gute Chancen

Mit deutlich mehr kann Hasan Kücük von der HDP rechnen. Die pro-kurdische Partei, deren Spitzenkandidat Selahattin Demirtas im türkischen Wahlkampf fast nicht vorkommt, weil er im Gefängnis sitzt, ist auch in Nürnberg kaum zu sehen. Doch das Wählerpotenzial der HDP liegt in Franken bei etwa 15 Prozent.

Während Kücük, der auch als Wahlbeobachter in Cadolzburg war, Manipulationen bei der Auszählung in der Türkei befürchtet, hatte er in Nürnberg nur eine Sorge: "Wir mussten unsere Plakate mehrmals austauschen, weil sie immer wieder zerstört wurden."

Während sich die Opposition ins Zeug legte, war vom Bündnis aus der nationalistischen MHP und der AKP in Nürnberg kaum etwas zu sehen. Doch zumindest was die islamisch-konservative Partei angeht, täuscht dieser Eindruck gewaltig.

Bis auf einen einzigen Info-Stand hielt man sich mit öffentlichen Auftritten zwar zurück. "Wir wollten die deutsche Gesellschaft nicht belästigen", erklärt AKP-Funktionär Rasit Pistil. Die gut geölte Wahlkampfmaschinerie, die er von Nürnberg aus koordiniert hat,
lief trotzdem wochenlang auf Hochtouren.

Ein aus 160 Freiwilligen bestehendes Heer brachte in Nordbayern mit seinen rund 66 000 Wahlberechtigten mehr als 30 000 AKP-Broschüren unters Volk. Im Unterschied zu anderen gingen die Erdoðan-Anhänger auch fleißig Klinken putzen und verteilten bei Hausbesuchen oder vor Moscheen und Geschäften Geschenktüten, wie auch auf der Facebook-Seite der Nürnberger AKP-Wahlkämpfer zu sehen ist.

Fahrdienst organisiert

Mobilisiert haben Rasit Pistil und sein Team ihre Wähler aber nicht mit AKP-Kugelschreibern oder Kaffeetassen mit einem Erdoðan-Bild darauf, sondern mit einem Fahrdienst, der die Menschen kostenfrei von der Haustür bis vor das Wahllokal in Cadolzburg transportierte. "Wir haben schätzungsweise 5000 Menschen an die Urne gebracht", sagt Pistil, demzufolge die AKP das alles aus Spenden und Mitteln aus der gesetzlichen Parteienfinanzierung bestreitet. "Auch die anderen Parteien erhalten Wahlbeihilfen", betont er mit Blick auf Kritik aus den Reihen der Opposition. "Wir fragen auch nicht, was sie damit machen."

Was den Wahlausgang angeht, ist er genauso zuversichtlich wie alle anderen. Obwohl sich nach drei Wahlen und einem Referendum innerhalb von nur vier Jahren bei manchem Türken Wahlmüdigkeit einschleiche, werde die AKP ihr Ergebnis in Nürnberg verbessern.

Auch dank der unerwarteten "Hilfe" deutscher Medien, sagt er: "Wie die mit Özil umgehen, empfinden viele Jugendliche als unfair und kommen deswegen zu uns." Auf die Frage, wie er sich auf eine eventuelle Stichwahl zwischen Erdoðan und dem zweitstärksten Kandidaten vorbereitet, antwortet der AKP-Mann ganz siegessicher: "Gar nicht. Wir werden die Wahl in der ersten Runde gewinnen."

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