Fall 31: "Wenn ich hier war, geht es mir viel besser"

16.12.2017, 18:41 Uhr
Romas B. wartet auf der Behandlungsliege darauf, dass ihm Krankenpfleger Sebastian Balling (vorn) die Füße verbindet. An dem rechten hat er wegen seiner Diabetes nur noch zwei Zehen. Der 56-Jährige ist froh, dass er in der Straßenambulanz umsonst versorgt wird.

© Foto: Horst Linke Romas B. wartet auf der Behandlungsliege darauf, dass ihm Krankenpfleger Sebastian Balling (vorn) die Füße verbindet. An dem rechten hat er wegen seiner Diabetes nur noch zwei Zehen. Der 56-Jährige ist froh, dass er in der Straßenambulanz umsonst versorgt wird.

Es ist Freitagvormittag, vor dem Wochenende ist viel los in der Straßenambulanz der Caritas im früheren Franziskanerkloster St. Ludwig. Romas B. sitzt in einem der Behandlungszimmer im Mantel auf der Liege, Krankenpfleger Sebastian Balling cremt ihm die Füße ein, verbindet den rechten, an dem Romas B. nur noch zwei Zehen hat. Schuld ist der Diabetes. Wäre die Zuckerkrankheit früher besser behandelt worden, vielleicht wären die Zehen zu retten gewesen.

Den 56-Jährigen hat das Leben gezeichnet, er sieht mindestens zehn Jahre älter aus. Er kam vor acht Jahren nach Nürnberg, weil er eine Arbeit suchte. Was er fand, war ein Leben auf der Straße, Nächte in Notschlafstellen. Gesundheitsvorsorge, Krankenversicherung? Für Romas B. blieben das Fremdwörter.

Umso dankbarer ist er, dass er täglich in die Straßenambulanz kommen kann. Dass ihm Sebastian Balling vorsichtig den wunden Fuß versorgt. Ihm die Nägel schneidet. Vorher kann er duschen, sich rasieren, damit er sich vor Balling und den Ärzten nicht schämen muss.

Keine orthopädischen Schuhe

Hier findet er, der kaum mehr besitzt als den Mantel, die Hose und den Pullover, die er sich im Untergeschoss in der Kleiderkammer der Straßenambulanz aussuchen konnte, Anerkennung. Seit fünf Monaten ist er trocken, "und er kommt jeden Tag pünktlich zur Behandlung, was keineswegs selbstverständlich ist", lobt Balling, Er hilft Romas B. in die Schuhe. Es sind normale Straßenschuhe, keine orthopädischen. Patienten mit Krankenversicherung hätten natürlich spezielle Schuhe, damit das Gehen mit dem fast zehenlosen Fuß leichter fällt.

"Teure Medizinprodukte können wir uns nicht leisten", sagt Dr. Jörg Seiler. Verbandsmaterial, Medikamente, Kanülen: Die Straßenambulanz kann das meiste nur dank Spenden kaufen. "Wir bemühen uns um eine Versorgung nach dem aktuellen Stand", sagt Seiler. "Aber wir haben definitiv andere Limits als normale Praxen und müssen immer gezielt nach Lösungen suchen."

Man kooperiert mit Fachärzten, die ehrenamtlich helfen. Aber Seiler will das Netz nur nutzen, wenn die Möglichkeiten der Straßenambulanz definitiv nicht reichen. Um die freiwillig mitarbeitenden Kollegen nicht überzustrapazieren, sie könnten bei zu viel Stress ja jederzeit aussteigen. Tragisch: Schwangere Frauen ohne Krankenversicherung, die nicht wissen, wohin. Heuer kamen schon 32 in die Straßenambulanz. Grundsätzlich sei die Unterstützung durch niedergelassene Gynäkologen extrem wichtig. "Teilweise reicht die Hilfe gar nicht aus", sagt der 48-jährige Allgemeinarzt, der beruflich nach Guatemala ging, bevor er in die Straßenambulanz einstieg. Seiler nennt seine Motivation "humanistisch". Es sei sehr befriedigend, Menschen in Not zu behandeln, formuliert es Sebastian Balling.

Offene Wunden - in der Straßenambulanz sind sie ein Dauerthema. "Hier ist auch ein Husten häufiger eine Lungenentzündung oder Tuberkulose", sagt Seiler. Er sieht riesige Spritzenabszesse am Hals, am Arm. Teilweise sind sie lebensbedrohlich. Wo soll sich jemand, der illegale Drogen nimmt oder auf der Straße lebt, den kein niedergelassener Arzt behandelt, weil er nicht versichert ist, auch rasche Hilfe holen? So wachsen sich unbehandelte Wunden zu tiefen Kratern und entzündete Einstiche zu eitrigen Abszessen aus. Die Straßenambulanz ist dann Rettung für viele. 2016 ließen sich 1100 Menschen behandeln, heuer sind es 1300. Die Hälfte ist nicht krankenversichert. Wer in Nürnberg lebt, für den gibt das Sozialamt einen Zuschuss - etwa die Hälfte der üblichen Vergütung durch die Krankenkassen. Das schützt die Straßenambulanz aber nicht vor Geldnot.

Leiter Roland Stubenvoll wird nie vergessen, wie eine rumänische Mutter mit ihrem längst dem Kleinkindalter entwachsenen Sohn auf dem Arm im Wartezimmer stand. "Das Kind hatte epileptische Anfälle, sie konnte ihn kaum halten." Der Junge war noch nie behandelt worden, schlief in der kargen Wohnung auf einer Matratze auf dem Boden.

Einige Begegnungen werde man nicht los, sagt Stubenvoll. Die mit dem Obdachlosen etwa, der am ganzen Körper Bisse hatte, aber keine
Flöhe. "Als er sein Hemd ausschüttelte, fielen Kleiderläuse in Massen heraus." Dass sechsjährige Kinder in die Straßenambulanz kommen, die noch nie bei einem Arzt waren, erschüttert selbst den hartgesottenen Krankenpfleger und Einrichtungsleiter.

Stubenvoll organisiert nicht nur die medizinische Versorgung, er ist auch Mann für alles im Tagestreff der Straßenambulanz. "Komm doch bitte mal, da schreit einer rum", bittet ihn Sonja Derin. Stubenvoll nimmt den Pöbler mit zu viel Restalkohol im Blut zur Seite. "Jetzt gib Ruhe, sonst musst du gehen."

50 Frühstücke pro Tag

Es gibt Regeln im Tagestreff. Kein Alkohol, keine Drogen, ein anständiger Umgangston. Ansonsten: 30 bis 50 Frühstücke pro Tag, 70 bis 100 Mittagessen. Sonja Derin steht seit zwölf Jahren in der Küche, ein Filialist liefert Wurstsemmeln, Bäcker spendieren 200 Semmeln und 30 Brote pro Tag. Es sind die Reste, die sich nicht verkauft haben. "Wir schauen, was wir daraus kochen können", sagt Derin. Oft kommen Nudeln mit Wurst und Sauce auf den Tisch. Immer gebe es freundliche Worte der Gäste. "Danke für das Essen, ich hätte sonst nichts gehabt." Wenn Derin das hört, ist sie stolz auf ihre Arbeit.

Heute gibt es Leberkäse mit Kartoffelsalat, eine Spende vom Inner Wheel Club. Roby hat die kleine Salatschüssel schon vor sich stehen, wechselt ein paar Worte mit den anderen Männern an seinem Tisch. Er kam aus Kroatien mit seiner Frau und vier Kindern. "Ich arbeitete zu Hause im Tourismus, aber das Geld reichte nicht für die große Familie", erzählt der 40-Jährige. Doch das Glück war ihm auch in Nürnberg nicht gewogen: Die Ehe zerbrach, Roby landete nach einer Schlägerei im Gefängnis. Jetzt holpert sein Leben so vor sich hin. Zwei Monate war er obdachlos, er jobbte als Lkw-Fahrer, verlor die Stelle. Im Tagestreff tankt er Energie: "Hier sind alle in Not. Wir haben gemeinsame Themen, man kriegt Tipps, welche Obdachlosenpension okay ist." Das zieht Roby nicht runter, im Gegenteil. "Wenn ich hier war, fühle ich mich viel besser."(Siehe StandPunkt)

 

"Freude für alle e. V." bittet heute gezielt für die Besucherinnen und Besucher der Straßenambulanz Franz von Assisi um Unterstützung. Unsere Spendenkonten:

Sparkasse Nürnberg: DE63 7605 0101 0001 1011 11

Sparkasse Fürth: DE96 7625 0000 0000 2777 72

Sparkasse Erlangen: DE28 7635 0000 0000 0639 99

Postbank Nürnberg: DE83 7601  0085  0400  0948  54.

Alle Zuwendungen kommen ohne Abzüge unmittelbar Bedürftigen in unserer Region zugute. Für zweckgebundene Spenden genügt die Angabe der Fallnummer. Alle Informationen und Reportagen finden Sie auch online unter nordbayern.de 

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