Leere Kirchen: Immer weniger Christen in Nürnberg

5.1.2018, 05:54 Uhr
Leere Kirchen: Immer weniger Christen in Nürnberg

© Horst Linke

Reformationsjubiläum schön und gut, aber eine protestantische Stadt ist Nürnberg schon lange nicht mehr. Und eine katholische genauso wenig. 27 Prozent der Bürger sind gemäß der jüngsten Einwohnerstatistik evangelisch, 25 katholisch. Im Umkehrschluss heißt das: 48 Prozent der Nürnberger haben keine oder eine andere Konfession.

Trotz eines Verlusts an Religiosität vergrößert sich dabei die religiöse Vielfalt. Die neueste Ausgabe des Religionsführers "Offene Türen" verzeichnet 50 verschiedene Glaubensgemeinschaften in Nürnberg. Eine Auflage früher, ein Jahrzehnt zuvor, waren es erst 32. Allerdings sind die allermeisten Gruppierungen klein bis sehr klein. Im Bundesdurchschnitt wird der Anteil der Muslime auf knappe sechs Prozent geschätzt (siehe auch Info-Kasten). Die Zahl der Bekenntnislosen wächst viel schneller.

Diese Gewichtungen haben sich zuletzt rasant verschoben. Noch vor einem Jahrzehnt machten Katholiken, Protestanten und alle Übrigen jeweils ein Drittel der Stadtbevölkerung aus, wie ein neuer Bericht des städtischen Statistikamts zeigt. Am drastischsten schrumpfte im historischen Rückblick der Anteil der Protestanten. 1961 stellten sie 59 Prozent, zu Beginn des 20. Jahrhunderts 69 Prozent. Bis Nürnberg 1806 an Bayern überging, gab es in der streng reformatorisch ausgerichteten Stadt fast 300 Jahre lang überhaupt nur Protestanten. Danach zogen stetig Katholiken aus dem Umland zu. 1812 nahmen sie schon vier Prozent ein, mit dem industriellen Wandel wuchs ihre Zahl bis 1900 fast auf ein Drittel der Bevölkerung.

Bindungen lockern sich

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Wenn sich nun die Mehrheitsverhältnisse erstmals seit Jahrhunderten umkehren und das christliche Nürnberg schon bald unter die 50-Prozent-Schwelle rutscht, scheint das die Betroffenen kaum zu deprimieren, zumindest nicht nach außen. "Trotzdem sind wir ein starker Partner in der Stadt", sagt etwa der evangelische Stadtdekan Jürgen Körnlein betont optimistisch. "Wir werden wahrgenommen. Wir wollen das Salz der Erde sein für die Stadt." Sein katholischer Amtskollege Hubertus Förster stimmt zu. "Selbst wenn wir in zehn Jahren vielleicht mal 40 Prozent sind – wenn wir gut arbeiten, wird man uns wahrnehmen."

Auch wenn Schließungen von
Kirchen in Mittelfranken noch fern erscheinen, bestätigen die Zahlen, was Körnlein und Förster schon
lange spüren: den deutschlandweiten Abschied von einer Volkskirche, die Erosion gesellschaftlicher Institutionen, zu denen Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Kirchen zählen. Nicht nur die Frömmigkeit lockert sich, auch die Bindung. "Wir machen uns nicht vor, dass wir den Trend umkehren können", sagt Körnlein. Förster gewinnt dem sogar etwas Positives ab: eine Befreiung. "Wir müssen nicht mehr alle bedienen. Wir sind für die da, die kommen."

Das Amt für Stadtforschung und Statistik betont, dass sich der Rückgang nicht allein mit Kirchenaustritten erklären lässt. Sie waren zuletzt sogar rückläufig. Im Bericht zu den Kirchenzahlen schildern die Forscher vielmehr die Bevölkerungsentwicklung als eine Hauptursache. Dazu zählt die Zuwanderung. In Wohnbezirken mit vielen Migranten entlang der Fürther Straße oder in der Südstadt beträgt der Anteil aller Christen zusammen heute nur noch 30 bis 40 Prozent. Spitzenwerte erreicht er im weniger durchmischten Knoblauchsland mit teilweise 75 Prozent.

Vor allem aber sterben den Kirchen durch den demografischen Wandel die Mitglieder schneller weg als neue nachkommen. Kirchenmitglieder sind älter als die restliche Bevölkerung. Der Durchschnitts-Nürnberger ist
derzeit 43 Jahre alt, der Nürnberger Katholik 47 und die evangelische Bevölkerung 48 Jahre.

Geburtenzahl steigt - Verjüngung in Kirchen?

Durch den aktuellen Anstieg der Geburtenzahlen wäre jedoch eine "altersstrukturelle Verjüngung in den großen christlichen Kirchen teilweise vorstellbar", so die Statistiker. In 70 Prozent der Haushalte mit Kindern, deren Eltern dieselbe Konfession haben, haben auch die Kinder diese Konfessionszugehörigkeit. Die Weitergabe an die Kinder passiere zwar nicht mehr so selbstverständlich wie in der Zeit vor 1968, doch sei "Religiosität in Familien noch nicht so stark verschwunden (...), wie man vielleicht aus den Kirchenaustritts- oder Besuchszahlen von Gottesdiensten schließen könnte".

Die missionarische Arbeit, den Menschen Lust auf Kirchenzugehörigkeit zu machen, bleibe also eine Aufgabe, findet der katholische Stadtdekan Förster. Und die Seelsorgearbeit werde sich künftig noch stärker umbilden müssen: hin zu Einzelangeboten, in denen sich eine "ausdifferenzierte Gesellschaft" wiederfindet. Segnungen zu bestimmten Anlässen beispielsweise. Das könne nur über die Konzentration auf Schwerpunkte gelingen. "Einzeln wäre jede Pfarrei damit überfordert, alle Neigungen und Milieus zu bedienen." Förster nennt die Pfarrei St. Anton in Gostenhof, in der besonders viele Christen mit ausländischen Wurzeln ihre Kulturen pflegen. Oder St. Klara an der Königstraße, die "Citykirche" mit säkular-toleranten Veranstaltungszuschnitten.

Der evangelische Theologe Johannes Lähnemann, der emeritierter Professor der Universität Erlangen-Nürnberg ist, zeigt sich einerseits enttäuscht "darüber, dass die Öffnung der letzten Jahre nicht mehr Zuspruch gefunden hat". Aber die großen Glaubensgemeinschaften hätten Lernprozesse durchlaufen. In vielen Gemeinden blühe eine lebendige Vielfalt. Jetzt komme es auf gute Bestandspflege an, "die gelingt nur durch persönliche Begegnung". Damit die Kirchen auch als Minderheiten in einer weltanschaulich zersplitterten Großstadt gesellschaftlich relevant bleiben, empfiehlt Lähnemann weniger Selbstbespiegelung. "Wichtig schiene mir, sich stärker auf Inhalte als auf Strukturen zu konzentrieren."

Zukunftskonferenzen für Neugestaltung

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Ähnliches war im zurückliegenden Reformationsjubiläumsjahr häufig von Bischöfen zu hören. An der Basis allerdings kämpfen Laien und Geistliche sehr wohl mit Strukturen und Streitfragen der Organisation: mit Sparmaßnahmen, Personalmangel, Generationenkonflikten. Und nicht zufällig stecken beide Kirchen in Bayern zurzeit in komplizierten Zukunftskonferenzen über ihre Neuausrichtung. "Profil und Konzentration" nennt sich der im Frühjahr begonnene Reformprozess auf evangelischer Seite. Bei den Katholiken hat zuletzt das Bistum Eichstätt seine Pfarreien zu mehr Zusammenarbeit in "Pastoralräumen" verpflichtet. Das Erzbistum Bamberg arbeitet gerade hinter verschlossenen Türen an einer Neuordnung, um den Priestermangel besser auszugleichen.

Aus Stadtdekan Körnleins Sicht ist es kein Verschulden der Kirche, wenn ihr Bestand schrumpft. "Wir sind doch so was von modern und innovativ unterwegs. Wir können und wollen aber unser Produkt nicht ändern, die christliche Grundbotschaft." Es gebe
mittlerweile vielfältige Angebote für Spiritualität, für Trauernde, Pilger, Jugendliche, Kulturpublikum – "und den Wunsch nach dem klassischen Bibelgespräch gibt es nach wie vor". Im Gegenteil dürften Pfarrer guten Gewissens ihre Leistungsgrenzen
achten und auswählen, auf welche Schwerpunkte sie ihre Energie richten. "Es ist legitim zu sagen: Es ist genug. Wir können nicht in jeder Lebenswelt präsent sein."

Zusammenarbeit wird zur Notwendigkeit

Nürnberg vertrage es künftig gut, wenn sich manche Kirchen in den Stadtteilen noch stärker zur Diakonie hinwenden, meint Körnlein – nach dem Vorbild der Vesperkirche in Lichtenhof, "wo sich Menschen aller Schichten begegnen".

Auch für die Ökumene erwarten die beiden Stadtdekane einen weiteren Schub. Was vor einem halben Jahrhundert noch undenkbar war, wird nun langsam zur Notwendigkeit: die Zusammenarbeit im Alltag. In der einstigen Protestanten-Hochburg Nürnberg dürften Evangelische und Katholische demnächst öfter überlegen, welche Aufgaben sie sich mangels eigener Breitenwirkung teilen können. Vom Seniorentreff über das Gemeindeblatt bis zur Belegung von Gebäuden – "da können wir noch besser werden", stellt Körnlein fest.

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