Nach 70 Jahren: Ex-Soldat sucht Nürnberger Mädchen

11.4.2015, 11:09 Uhr
Der heute 93-jährige ehemalige US-Soldat Leo Ryan - im Bild mit seiner Tochter Jackie.

Der heute 93-jährige ehemalige US-Soldat Leo Ryan - im Bild mit seiner Tochter Jackie.

Jackie Ryan schaut in ihrer Wohnung in San Francisco gespannt auf ihren Computerbildschirm. "Da ist es - Mommsenstraße 39", ruft sie aufgeregt. Vor ihr erscheint der Stadtplan von Nürnberg aus der Straßenperspektive. "Es sieht noch fast genauso aus wie vor 70 Jahren."

Die erfolgreiche Jazzsängerin ist auf einer Schatzsuche. Auf dem Tisch vor ihr liegen Schwarz-Weiß-Fotografien, ein Medaillon und Notizzettel. Sie hofft, Hildegard zu finden: eine Frau, die jetzt 75 oder 76 Jahre alt ist. "Mein Vater hat so viel von ihr erzählt. es war die einzige fröhliche Geschichte aus dem Krieg."

Kleine Begleiterin

1945 lebte Hildegard mit ihrer Mutter und ihrem sechs Jahre älteren Bruder im fast vollständig zerbombten Nürnberg. Knapp zwei Monate lang wurde sie im Frühsommer zur kleinen Begleiterin eines US-Soldaten, der in der Stadt stationiert war: Leo Ryan - der Vater von Jackie.

Leo Ryan während seines Einsatzes nach Kriegsende 1946 als Truppenführer in Nürnberg.

Leo Ryan während seines Einsatzes nach Kriegsende 1946 als Truppenführer in Nürnberg.

Der ist inzwischen 93 Jahre und lebt auch in San Francisco. Er hat sich neben seine Tochter gesetzt. "Hildegard war wie ein Vogel", erzählt er. "Frei und unbekümmert." Jackie nimmt das Medaillon. Der Verschluss ist schwer zu öffnen. Als er aufspringt, treten Leo Tränen in die Augen. Auf der einen Seite ist ein Bild von Hildegard: weißes Kleid, die blonden Haare zum Kranz gebunden. Auf der anderen Seite in Kinderschrift die Worte "Vergiss mich nicht." Ihr Abschiedgeschenk. Leo hat das Mädchen nicht vergessen. Das Amulett liegt noch heute auf seinem Nachttisch.

Mulmige Gefühle

Wenn er daran denkt, wie er es bekommen hat, wird ihm noch heute mulmig. Es war bei der Abschiedszeremonie für sein Bataillon. Alles lief nach offiziellem Protokoll. "Da hörte ich plötzlich alle um mich herum den Atem anhalten", erinnert sich Leo. Dann sah er, wie Hildegard quer über das Feld, vorbei an Soldaten und Offizieren direkt auf ihn zu marschierte. Er war damals 23 Jahre alt und einer der stramm stehenden Soldaten. Hildegard kam mit hoch erhobenem Kopf quer über das Feld. "Oh Gott! Hildegard! Nein! Schnell raus!" zischte er durch die Zähne.

Doch das Mädchen hielt ihm ein Päckchen entgegen: "Hier Leo! Für Dich!" Dann drehte sie sich um und ging schnurstracks zurück zu den Zuschauern jenseits der Absperrung. "Parademarsch 1", gab der Adjutant den Befehl und Leo Ryan marschierte mit den anderen 500 Soldaten an den Zuschauern vorbei - darunter auch Hildegard und ihre Mutter. „Sie sah so traurig aus, aber ich konnte ja nichts sagen oder tun“, bedauert Leo noch heute. Danach hat er Hildegard nie mehr gesehen.

Die damals sechsjährige Nürnbergerin Hildegard schenkte Leo Ryan zum Abschied ein Medaillon mit ihrem Bild, das er heute noch aufbewahrt.

Die damals sechsjährige Nürnbergerin Hildegard schenkte Leo Ryan zum Abschied ein Medaillon mit ihrem Bild, das er heute noch aufbewahrt.

Er weiß noch genau, wann er sie zum ersten Mal traf. „Unser Bataillon war gerade von Landshut nach Nürnberg gekommen und wir haben unsere Sachen ausgepackt. Ein paar Kinder standen uns dabei andauernd im Weg.“ Ein stilles Mädchen fiel Leo auf. Sie schien ihn zu beobachten und tauchte bei der Mensa auf. In der Stadt sprach sich herum, dass die Amerikaner Kindern Butterbrote gaben, trotz des Befehls, keinen Kontakt mit den Deutschen aufzunehmen.

Leo hatte vor dem Krieg als Sänger in Kalifornien Geld verdient. Seine Spezialität: deutsche Lieder. Das Vokabular, das er dabei gelernt hatte, half ihm nun, mit Hildegard zu sprechen. "Ich bin Leo", stellte er sich vor. Ihre Freundschaft begann. Das Mädchen kam jeden Tag zum Quartier.

Auf dem Jeep-Rücksitz

Hildegard saß auf dem Rücksitz, wenn Leo mit dem Jeep zum Hauptquartier fuhr - meist bei offenem Verdeck mit flatterndem Haar. Ihre Mutter wusch die Uniformen der Soldaten. Erst später erfuhr Leo, dass sie die Armeeseife auf dem Schwarzmarkt verkaufte und dafür deutlich mehr Geld bekam als fürs Waschen. „Sie hatte allein zwei Kinder zu versorgen. Ihr Mann war vermisst, zuletzt gemeldet an der russischen Front.“

Als Leo hörte, dass seine neue Gefährtin bald ihren sechsten Geburtstag feiern würde, entwickelte er einen waghalsigen Plan: Schokoladendiebstahl aus dem Lagervorrat. Alle drei Wochen bekamen die Soldaten eine Box mit Kautabak, Zigaretten, Zahnpasta, Rasierseife, Rasierklingen und einer Schachtel Schokoladenriegel. Die nächste Ration war allerdings erst in ein paar Wochen fällig. Zu spät für Hildegards Geburtstag. Leo: „Ich entwickelte mit Kameraden diese dumme Idee, eine Kiste zu stehlen.“

Sie fuhren in einem Jeep ins Lager, schlichen sich an Wachposten vorbei und suchten zwischen Paletten voller Kleidung und Ausrüstung die Versorgungsboxen. Leo griff sich eine. „Wir hätten dafür im Gefängnis landen können“, erinnert sich Leo. „Aber ich wollte unbedingt ein Geschenk für Hildegard.“

Zum Geburtstag waren viele Gäste gekommen. Als Hildegard das Geschenk auspackte, wurden alle still. „Pack aus, probier mal“, ermunterte Leo sie, doch die Mutter stellte die Kiste zur Seite. „Nein Leo, nicht jetzt. Morgen.“

Als Hildegard am nächsten Tag zum Quartier kam fragte Leo sie, wie ihr die Schokolade geschmeckt hatte. „Welche Schokolade?“, fragte sie — das Geburtstagskind hatte gar nichts davon bekommen. Leo erfuhr, dass die Mutter sie schon am Morgen auf dem Schwarzmarkt verkauft hatte, und stellte sie bei der nächsten Gelegenheit zur Rede. „Das ist nicht Schokolade, Leo. Das ist unsere Zukunft“, erwiderte die Mutter und sagte ihm, wie viel sie für die Süßigkeit bekommen hatte: 50 Mark pro Riegel, 2050 Mark für die ganze Kiste. Leo war noch immer enttäuscht, aber er verstand.

Nur wenige Tage nach dem Geburtstag kam der Befehl zum Abmarsch und Hildegards mutige Dankesgeste. Leo konnte Hildegards Geschenk erst zurück in der Kaserne auspacken. Als er Foto und ihre Worte im Amulett sah, stockte sein Herz. Er wollte sich unbedingt richtig verabschieden. Doch noch in derselben Nacht, morgens um drei Uhr, verließ seine Einheit Nürnberg in Richtung Marseille.

Keine Adresse

Leo ist inzwischen Großvater, doch Hildegard hat er nie vergessen. Er bedauert, dass er das Mädchen nicht nach seinem Nachnamen fragte und sich keine Adresse aufschrieb. „Der Abschied kam zu plötzlich. Sie hat wohl gewusst, dass es die letzte Gelegenheit war, mich zu sehen.“

Leo Ryan freut sich, dass seine Tochter nun versucht, die beiden wieder zusammen zu bringen. „Ich möchte mich so gerne bedanken. Für das Medaillon und für Hildegards Freundschaft.“ Ihm steigen Tränen in die Augen.

Jackie Ryan ist auf ihrer Spurensuche ein paar Schritte weiter. Sie hat Fotos gefunden, die Adresse, wo die Soldaten untergebracht waren, und einen Namen: Frau Hummel. Leo glaubt, so hieß eine Nachbarin oder Bekannte von Hildegards Mutter.

Briefe durchforstet

Als nächstes wird die Sängerin Briefe durchforsten, die Leo aus dem Krieg an ihre Mutter, seine damalige Freundin, schrieb. „Vielleicht gibt es da ja Beschreibungen von Nürnberg und Hildegard! Wäre das nicht wunderbar, wenn sich die beiden wiedersehen könnten?“

Sie würden Hildegard den Flug nach San Francisco bezahlen, verspricht sie. Für ihren Vater könnte die Reise vielleicht zu anstrengend sein. Leo schaut seine Tochter erstaunt an. „Zu anstrengend? Natürlich fliegen wir hin. Ich möchte gern noch mal nach Nürnberg!“

Wer weiterhelfen kann: Infos bitte an die Lokalredaktion, Telefon 0911 / 216 2410 oder per Mail an nn-lokales@pressenetz.de

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