Symbolfigur für das Spektakel

22.10.2012, 14:30 Uhr
Symbolfigur für das Spektakel

© Wolfgang Zink

Tyrone Brazelton war schwer zu verstehen. Eigentlich war er überhaupt nicht zu verstehen. Zumindest nicht mit den Kenntnissen aus zehn Jahren Gymnasial-Englisch. Aber vielleicht war die Sprache, die er zermalmte wie einen Kaugummi, in diesem Moment gar nicht so wichtig. Man musste Tyrone Brazelton nur dabei zusehen, wie er sich die Hände eincremte und mit gesenktem Kopf die zwei Nummern zu große Jeans festzurrte. Er sagte: „Dieses Spiel bringt mich um den Verstand.“ Wenigstens meinte man das zu verstehen. Was man sah, war, dass dieser Mann unendlich traurig war.

Diese Umkleidekabine, in deren letztes Eck sich Brazelton zurückgezogen hatte, war nur an diesem Abend die Umkleidekabine des Nürnberger Basketballclubs, unter der Woche zurren sich hier Berufsschüler die Jeans fest. Auch deshalb war es so leicht, einfach einzutreten und Brazelton diese einzige Frage zu stellen: Was haben Sie sich eigentlich in den letzten zehn Sekunden gedacht, als Sie die letzte kleine Chance auf ein besseres Ergebnis so leichtfertig vergeben hatten? Dann aber saß dort nicht jener Basketballer, der auf dem Parkett zuvor noch so unangreifbar cool gewirkt hatte, so selbstbewusst, dass es nicht selten überheblich wirkte. Dort saß ein 26 Jahre junger US-Amerikaner, der grenzenlos enttäuscht war — von dem einigermaßen überraschenden 83:87 gegen eine Mannschaft, die den schönen Namen Rasta Vechta trägt, und vor allem von sich selbst.

Statistisch war Brazelton der Mann des Abends. Statistisch ist Brazelton bislang der Mann der Saison. Kein Spieler in der ProA genannten zweiten Liga hat mehr Punkte gesammelt als der Nürnberger mit der Nummer 6. Am Samstagabend hat er seiner herausragenden Bilanz 29 weitere Zähler hinzugefügt. Und trotzdem wusste man nicht genau, ob er dem NBC das Spiel beinahe noch gewonnen hätte oder eben doch verloren hat.

„Der Trainer hatte einen Plan für uns“, so oder so ähnlich formulierte das Brazelton. „Wir sollten schnell spielen, ich sollte das Spiel antreiben, das war meine Aufgabe als Spielmacher.“ Und die hat er, das äußerte er unmissverständlich, seiner Meinung nach diesmal nicht erfüllt. Zu den 29 Punkten kamen schließlich auch sechs Ballverluste und jene grotesken zehn Schlusssekunden beim Spielstand von 83:87. Vier Punkte Rückstand, zehn Sekunden vor dem Ertönen der Schlusssirene, das war eine Herausforderung, aber nicht unmöglich. Schon gar nicht für einen wie Brazelton.

Zuvor war Brazelton durch die Zone der nach einem Bob-Marley-Song benannten Gäste geflogen, hatte entweder selbst abgeschlossen oder den Ball nach außen auf Juan Reile oder Luke Fabrizius gepasst und dazwischen immer wieder den Ball verloren. Auch deshalb ist Brazelton die Symbolfigur des spektakulären NBC-Teams: Wie viele seiner Kollegen ist er talentierter als der durchschnittliche ProA-Profi, allerdings auch weniger konstant und verteidigt schlechter. Gegen Vechta hatte Nürnberg bereits 68:60 geführt — ein krachender Dunk von Schröder, ein Dreier von Brazelton, ein Dreier von Will Chavis und schon war der NBC davongezogen. Weil aber die Mannschaft von Trainer Martin Ides defensiv durch Blocks von Ronald Thompson und Steals von Juan Reile nur individuell glänzte und den Rastamännern zu Beginn des Schlussviertels in nahezu jedem Angriff eine zweite und eine dritte Chance gewährte, wurde es wie immer spannend in der Halle am Berliner Platz.

Vechta zog vorbei, noch aber hatte der NBC diese eine Chance. Ein Dreier von Brazelton, ein schnelles Foul, noch ein bisschen Glück — und schon wäre es in die Verlängerung gegangen. Alles schon gesehen im Basketball. Brazelton aber gestikulierte, herrschte Thompson an, der ihm den Weg frei blocken sollte, zog vorbei, stieg hoch und warf — vorbei.

So stand er dann alleine in der Kabine, niedergeschlagen, müde, traurig und trotzig. „Wir sind eine Play-off-Mannschaft, das garantiere ich dir.“ Genauso hat er es gesagt, ganz sicher.

 

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