"Drachenlord", Hater, Straftaten

Wenn Swatting und Cyber-Mobbing zur Sucht werden

Philipp Peter Rothenbacher

Nordbayerische Nachrichten Forchheim-Ebermannstadt

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Ulrike Löw

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12.12.2016, 15:01 Uhr
Die Untiefen des Internets nutzen viele, um vermeintlich anonyme Straftaten zu begehen.

© dpa Die Untiefen des Internets nutzen viele, um vermeintlich anonyme Straftaten zu begehen.

Sie stammen von einem Mann aus dem Landkreis Erlangen-Höchstadt, arbeitslos, Mitte 20. Vom Amtsgericht Erlangen wurde er in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren auf Bewährung verurteilt wegen Cyber-Betrügereien und einer falschen Bombendrohung.

Heute sagt er als Zeuge aus im Prozess gegen einen Mann aus dem Landkreis Verden in Niedersachsen, arbeitslos, Mitte 20. Vom Landgericht Nürnberg-Fürth erwartet ihn eine Freiheitsstrafe von vier Jahren wegen Cyber-Straftaten in mehr als 120 Fällen. Zur Last gelegt werden dem Angeklagten unter anderem: das Ausspähen und die Fälschung von Daten, Betrug durch illegale Warenbestellungen mit geklauten Kreditkartendaten im Gesamtwert von mehreren zehntausend Euro, der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie, Volksverhetzung, der Missbrauch von Notrufen – und Cyber-Mobbing.

Zeuge und Angeklagter trafen sich bei "Teamspeak", einer Sprachkonferenz-Software, die im Grunde eine Weiterentwicklung der klassischen Chatrooms ist - miteinander sprechen, schreiben, Bilder teilen. "Wie ein großes Haus mit vielen verschiedenen Räumen. Manche kann man betreten, andere sind erst mal verschlossen", erklärt der Höchstädter. In einem dieser Räume - oder "Channels" - trafen sich er und der Niedersache gemeinsam mit anderen Usern. Persönlich gekannt habe er keinen aus der Gruppe, sagt der Zeuge. Die Kommunikation fand anonym über klangvolle Nicknames statt.

Monatliche "Pflichtanrufe"

"Wir haben schon mal über unsere echten Identitäten geraten, gewusst haben wir aber eigentlich nichts voneinander. Zwei Leute hatten einen Schweizer Dialekt." Eine internationale Gruppe, die eins vereinte: den Spaß am "Scheiße bauen", wie es der Höchstädter nennt. Dazu gehörten vor allem regelmäßige "Pflichtanrufe" bei Polizeidienststellen und Feuerwehren in ganz Deutschland: Wer im Channel bleiben wollte, musste "ungefähr einmal im Monat" bei den Behörden anrufen und frei erfundene Notfälle melden – einen Hausbrand, eine Vergewaltigung, einen Amoklauf. "Swatting" nennen sich diese Aktionen, ein Phänomen aus den USA.

Der deutschlandweit erste "Swatting"-Fall ging im Juli 2015 auf das Konto der Gruppe um den Angeklagten, glaubt die Staatsanwaltschaft. Gerichtet war er gegen einen Mann aus dem Landkreis Neustadt/Aisch-Bad Windsheim, arbeitslos, Mitte 20.

Seit mehreren Jahren gibt dieser als "Drachenlord" bekannte Heavy Metal-Fan privateste Einblicke in sein Leben – mittels Video-Blogs auf Portalen wie YouTube. 34.275 Abonnenten hat er dort, mehr als 1600 Likes sind es auf Facebook und auf Twitter folgen ihm gar über 55.000 Menschen. Drachenlord ist ein Internet-Star, der seine Popularität größtenteils daraus bezieht, dass er im Internet gehasst wird.

Die einen machen sich über sein Aussehen lustig, für die anderen ist er wegen seiner unbedarften Art zur perfekten Zielscheibe für Beleidigungen geworden und wieder andere reagieren auf fragwürdige Aussagen des Mittelfrankens mit Häme. Vereint sind all seine Hater dabei durch den Umstand, dass der im Grunde naiv-harmlose Youtuber auf ebendiesen Spott äußerst dünnhäutig, mitunter aggressiv reagiert.

Ein Online-Teufelskreis aus gegenseitigen Anfeindungen. Man schaukelte sich hoch – und das Wohnhaus des Mobbing-Opfers in einem verschlafenen 40-Seelen-Nest unweit der Mittleren Aurach, entwickelte sich zum Wallfahrtsort für Hater aus ganz Deutschland: Davon zeugen nicht nur unzählige Schmierereien an der Garagenwand, sondern auch etliche Videos im Netz. Darin wird Drachenlord unter anderem beschimpft und mit Eiern beworfen. Vorfälle, die in dem kleinen Dorf nicht unbeachtet bleiben.

Das Wohnhaus des Youtubers "Drachenlord" im Landkreis Neustadt/Aisch-Bad Windsheim ist zum Wallfahrtsort für Hater aus ganz Deutschland geworden.

Das Wohnhaus des Youtubers "Drachenlord" im Landkreis Neustadt/Aisch-Bad Windsheim ist zum Wallfahrtsort für Hater aus ganz Deutschland geworden. © ppr

Vor Gericht sagt ein älterer Anwohner aus, dass man den Online-Star schon oft gebeten habe, "aufzuhören, damit im Ort wieder Ruhe einkehrt". Der aber weigert sich beharrlich. Und in dieser ohnehin eskalativen Situation leisteten sich der Angeklagte und seine Teamspeak-Genossen immer geschmacklosere "Scherze": Sie organisierten bizarre Paketlieferungen an den Drachenlord, darunter Schweineinnereien, Sexspielzeug, auch Chemikalien für den Bau einer Bombe. Sie lancierten eine falsche Todesanzeige ihres Opfers, meldeten der Polizei, er versuche Kinder zu vergewaltigen, twitterten in seinem Namen Bombendrohungen und rassistische Sprüche.

"Das ist eben meine Arbeit"

"Die Nachbarn wissen schon, dass ich komme und bei ihnen läute, wenn ich was will", erzählt der Youtuber vor Gericht. Auch Pakete – sehr häufig Dinge, die unter seinem Namen bestellt werden – würden die Nachbarn gar nicht mehr annehmen, bestelle er selbst, wähle er eine ganz bestimmte Agentur, alles andere schicke er sofort zurück. Jüngst wurde der kräftig gebaute Mann, der mit Piratenkopftuch in den Zeugenstand tritt, selbst wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 900 Euro (90 Tagessätze zu jeweils 10 Euro) verurteilt – er hatte mit einem Stock eine Autoscheibe eingeschlagen.

Vor dem Landgericht schildert der 27-Jährige die Hintergründe seiner Attacke: Am Abend gegen 22 Uhr sei plötzlich ein Auto neben seinem Grundstück aufgetaucht, er habe vier bis fünf Personen in den Wagen vermutet, die genaue Anzahl jedoch nicht erkennen können. Als er nur noch drei Menschen in dem Auto registrierte, habe er angeblich befürchtet, dass mindestens zwei weitere Personen auf seinem Grundstück unterwegs sind – zur Selbstverteidigung bewaffnete er sich mit einem Stock.

Da sei das Auto plötzlich auf ihn zugerast und er habe auf dessen Scheibe geschlagen. "Eigentlich bin ich ein friedlicher, ausgeglichener Mensch", sagt er. Wie er seine eigenen Ausraster, die er als Videos ins Netz stellt, erklärt? Was ihn überhaupt dazu animiert, seine Wutanfälle zu dokumentieren? "Das ist eben meine Arbeit", sagt er und gibt an, zehn bis zwölf Stunden täglich am Computer zu sitzen, etwa fünf bis acht Stunden gingen alleine drauf, um Videos zu produzieren.

Jene Online-Filme, die seine Ausraster zeigen, seien als Filmschnipsel häufig von anderen immer völlig aus dem Zusammenhang gerissen – die Menschen, die ihn filmen, würden ihn vorher stundenlang provozieren. Ob er bei all den Anrufen, Falschbestellungen und fingierten Notrufen bei der Polizei nicht Angst habe, dass er nicht mehr ernst genommen werde, wenn er die Polizei wirklich braucht?

Diese Situation sei doch längst eingetreten, entgegnet er, ohnehin sei die Polizeiinspektion im Landkreis Neustadt unterbesetzt. Aufhören, Videos zu produzieren, um dem Ärger aus dem Weg zu gehen, will er nicht – es sei ihm egal, ob es Leute im Netz gibt, die ihn hassen, sagt der Drachenlord. "Dies ist ein freies Land – ich habe das Recht, weiterhin Filme zu machen."

Krimineller Geltungsdrang

Als "hochprofessionell und äußerst konspirativ" bezeichnet eine LKA-Beamtin im Prozess die Vorgehensweise des Angeklagten in Bezug auf die illegalen Warenbestellungen mit gehackten Daten. Die entsprechenden Anleitungen holte er sich jenseits von Google und Co. im Deep Web - auf Seiten und Foren, die sich speziell auf derlei Straftaten spezialisiert haben. Koordiniert wurden sie über "Panels", einer Mischung aus Forum und Börse.

Der Niedersachse selbst stand dabei keineswegs in der Hacker-Hackordnung ganz oben. Im Laufe der Verhandlung wird deutlich, dass er nur ein Rad einer viel größeren Betrugsmaschinerie war.

Der Angeklagte machte sich schnell durch seinen Geltungsdrang einen Namen: In der Teamspeak-Gruppe und anderen Foren postete er offenbar Bildschirmfotos von Listen der Waren, die er illegal geordert hatte. Oder kündigte an, dass er gleich einen Swatting-Anruf machen würde. Aufgrund derlei naiver Aktionen rückte er letztlich auch ins Visier der Fahnder.

"Ab und an hat er Links zu Kinderpornos oder ultrabrutale Gifs gepostet", erzählt der Zeuge aus Höchstadt. "Damit wollte er uns wohl schocken." Einige hätten ihm gesagt, dass sie das nicht witzig fänden. "Aber bald war es uns egal." Man stumpfe eben ab, so der Zeuge. "Vor allem wenn man stunden- und tagelang online ist. Für manche von uns ist das eine richtige Sucht geworden, die Scherzanrufe, das Scheißebauen eben."

Der Angeklagte sei technisch recht versiert, "aber in allen anderen Belangen keine große Leuchte", sagt Bernd M. (Name geändert), der den Prozess als Zuschauer beobachtet und im Netz darüber berichtet.

M. ist ein Insider und gehört einer Gruppe von Drachenlord-Hatern an. Dass der Niedersachse für seine Strafteilen verurteilt wird, hält er "selbstverständlich" für richtig. "Viele Aktionen, die er und seine Kumpels da veranstaltetet haben, auch viele gegen den Drachenlord, waren daneben." Über die Reaktionen des fränkischen Youtubers, lachte wiederum die ganze Netzgemeinde. "Es ist wie Mitmach-Fernsehen, ein biologisches Verhaltensexperiment – man pickst das Äffchen und guckt, was passiert."

Keine Kontrolle

Allerdings gibt es die "Netzgemeinde" als solche gar nicht, sondern nur eine unüberschaubar heterogene Masse an Usern. "Weil es keine Autoritäten oder Hierarchien gibt, ist es schwierig das Ganze zu kontrollieren.", sagt M. Für seine Gruppe gelte aber die ungeschriebene Regel, dass die Opfer ihrer "Späße" nicht körperlich angegangen werden oder deren Eigentum beschädigt wird.

"Youtuber wie Drachenlord leben ja hauptsächlich von uns Hatern und wir von ihnen. Erst als wir damit angefangen haben, ihn zu verarschen, wurde er eine Internet-Bekanntheit." Für Bernd M. sei es eher ein Zeichen von Inklusion, "dass wir Drachenlord nicht wie einen Aussätzigen behandeln, der wegen seines miesen Charakters beziehungsweise geringer Intelligenz ignoriert wird."

Dennoch ist sich M. auch seiner Verantwortung bewusst, wenn die "Scherze" (wie im aktuellen Fall) zu weit gehen, wenn ihre Opfer Schäden, ob finanziell, körperlich oder seelisch, davontragen. "Freilich wären wir mitschuld. Das Argument 'Ihr müsst ihn euch ja nicht anschauen, wenn er euch stört‘, ist völlig valid. Da sind wir zu Recht angreifbar." Das Deep Web werde oft für zwielichtige oder kriminelle Geschäfte genutzt, so M. Der Grundgedanke sei aber eine hochpolitische Angelegenheit: "Als Netzwerk für die freie Meinungsäußerung und -bildung, manchmal auch für extreme Formen der freien Meinung."

Teile des Netzes seien noch rechtsfreie Räume und "das ist gut und wichtig so. Denn, wer bestimmt dieses Recht? Der Iran? China? Die USA? Dort entzieht man den Menschen ihr Menschenrecht auf freie Meinung und Information. Wer sich dem widersetzt, muss Repressalien befürchten." Darum sei auch Anonymität etwas ungemein Wichtiges - weil sie vor Repression schützt. "Auf den Foren, auf denen ich unterwegs bin, finden sich Ärzte, Anwälte, Studenten aus aller Welt." Es sind also nicht nur junge Arbeitslose, die zu viel Zeit und zu wenig Anstand haben.

Dummjungenstreiche 2.0

Den Angeklagten und seine Gesinnungsgenossen pauschal als notorische Betrüger, gar Pädokriminelle oder Volksverhetzer zu verurteilen, fällt leicht. Zumal außer Frage steht, dass sie derlei Straftaten mit hoher krimineller Energie begangen und sich dafür rechtlich zu verantworten haben.

Wer sich allerdings nur ein wenig mit der "Szene", besser gesagt den unzähligen Szenen des Internets beschäftigt, merkt schnell: Es besteht aus schier endlos vielen Grauzonen - oft sind sie ein Ort der Freiheit, auch der der Narrenfreiheit; und nicht selten sind sie anrüchig oder mehr als das.

Aber was ist mit Scherz-Anrufen, falschen Pizzabestellungen, obszönen Kritzeleien, ins Holz geritzten Hakenkreuze oder an die Wand geklebten Ausschnitte aus Nackedei-Heften? All das gab es schon lange vor dem Internet. Unreifen Unfug trieben unreife Menschen seit jeher, das gehört meist zum Erwachsenwerden dazu. Doch Qualität und Quantität der Geschmacklosigkeiten blieben beschränkt, teilen konnte man seine analogen "Späße" nur im Freundeskreis oder mit der limitierten Öffentlichkeit einer Parkbank, Bushaltestelle, Schultoilette.

Mit der Digitalisierung und Vernetzung des Alltags hat sich dieser Umstand radikal verändert: Nur ein paar Klicks und plötzlich ist überall alles erlaubt: Menschen, die geköpft werden, Kinder, die vergewaltigt werden, Morddrohungen, die veröffentlicht werden – alles nur Memes, alles nur Gifs, alles "eigentlich gar nicht so gemeint". Bestialische Hinrichtungen und Kinderpornos als "Scherz" beziehungsweise als Ausdruck anonymisierter Freiheit? Kleine Bildchen, die sich manchmal bewegen und natürlich schockieren, aber "eigentlich" nicht ernst genommen werden sollen? Fallen die Hürden, fallen die Hemmungen.

Und so entwickeln sich vermeintliche Lausbubenstreiche in Zeiten grenzenloser Online-Möglichkeiten zu kriminellen Handlungen. Die grundsätzliche Motivation bleibt die gleiche, ob es nun darum geht andere zu provozieren oder bloßzustellen. Nur unterliegen die Möglichkeiten, jemanden zu diffamieren, inzwischen keiner technischen und moralischen Schranke mehr, geschweige denn einer effektiven Kontrolle - was wiederum auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ad absurdum führt: Weil im Netz jederzeit mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden darf.

Die Munition kommt aus der analogen Welt

Die Öffentlichkeit ist dabei prinzipiell eine weltweite. Deshalb lassen sich unter mehr als sieben Milliarden potenziellen Usern für jede noch so bizarre Meinung und noch so abscheuliche Aktion Gleichgesinnte finden. Oder zumindest solche, die es hinnehmen.

Wir sollten allerdings nicht vergessen: Die Munition mit der im Cyberspace geschossen wird, stammt aus der realen Welt - und selbst das Internet ist immer nur so rechtsfrei wie es die reale Welt zulässt.

Warum posten Menschen Unmenschliches oder begehen im Web kriminelle Taten, die "eigentlich gar nicht so gemeint sind"? Nun, weil sie es können. Weil sie Zugriff haben. Weil "eigentlich" ein genauso vager Begriff ist wie "Netzgemeinde". Weil es online nichts gibt, was es nicht gibt. Und offline erst recht.