"Wir erlebten den Prager Frühling hautnah"

29.3.2018, 18:16 Uhr

© Foto: Peter Romir

Auch Pfarrer Volker Schoßwald versteht sich als ein Mitglied der Achtundsechziger, die gegen alte Autoritäten und Strukturen rebellierten. Heute ist er als Geistlicher selbst Mitglied einer Institution – der evangelischen Kirche. Besteht hier ein Widerspruch? Dieser Frage ging er mit einem "68er-Gesprächs-Gottesdienst" nach. Als Gesprächspartner lud er sich einen Pionier der deutschen Rockmusik ein, der ebenfalls in Gostenhof lebt: Ernst Schultz, Gitarrist und Sänger von "Ihre Kinder". Wir sprachen mit Volker Schoßwald über Revolutionen, Rockmusik und den Muff unter den Talaren.

Herr Schoßwald, wie kamen Sie auf die Idee, einen Gottesdienst von und für die Achtundsechziger-Generation abzuhalten?

Volker Schoßwald: Das gehört zu unesrer Reihe "Streit und Versöhnung", die sich mit Themen beschäftigt, die dieses Jahr Jubiläum haben: r der Erste Weltkrieg 1918, die Reichspogromnacht 1938 und dann 1968. Eine Zeit, in der die Generationen aufeinandertrafen. Es war eine echte moralische Revolution, ohne ökonomische Gründe. Es ging nur um Gerechtigkeit! "Love & Peace" mag heute abgenudelt wirken, war aber damals hochaktuell.

Wie haben Sie persönlich das Jahr 1968 erlebt?

Schoßwald: Ich war 13 und bin gerade politisch erwacht. Die Ermordung von Martin Luther King im April 1968 hatte mich auf den gewaltfreien Widerstand aufmerksam gemacht und im August waren wir in Prag und erlebten den Prager Frühling hautnah. Zwei Tage später sind die Russen einmarschiert! Das war eine Bedrohung, von der ich nichts ahnte! Dann kamen Rudi Dutschke und die Kommune von Paris, all das faszinierte mich. Für Jugendliche ist Gerechtigkeit ein ganz großes Thema – sie können noch ganz klar zwischen Gut und Böse unterscheiden.

Wie kamen Sie auf Ernst Schultz als Gesprächspartner?

Schoßwald: Er wohnt ja in Gostenhof und ich hab ihn zufällig im Brozzi getroffen. Wir sind beide Kinder der Achtundsechziger, wenn auch von unterschiedlichen Enden. Er gehört zu den Ältesten, ich zu den Jüngsten, die man dazuzählen kann. Zudem hat mich seine Band "Ihre Kinder" schwer beeindruckt. Sie waren eine der Ersten, die Rockmusik mit deutschen Texten machten. Es war wie bei Luther: Sie wollten, dass sie von jedem im Volk verstanden werden. Auch der Name passt, weil er bewusst auf die abwesenden Väter und Großväter Bezug nahm.

Ist Ernst Schultz selbst auch Christ?

Schoßwald: Er wurde sehr kirchennah erzogen und dadurch schwer geprägt. Doch als Jugendlicher passten für ihn Christus und die evangelische Kirche nicht mehr zusammen — und er trat aus. Was nicht bedeutete, dass Jesus keine Rolle mehr für ihn spielte. "Jesus ist stärker als die Kirche", sagt er. Seine Kritik an der Kirche bedeutet nicht, dass alles nichts taugt.

Wie sahen Sie das als Jugendlicher?

Schoßwald: Ich wäre auch fast ausgetreten. Aber die Kirche hat auch eine wichtige Rolle in dieser Zeit gespielt. Viele Pfarrer waren modern und vorbildlich. Ich selbst bin wegen Jesus Pfarrer geworden und der Glaube an ihn hilft mir, meinen Idealen treu zu bleiben, auch wenn ich manches an der Kirche zu kritisieren habe. Jesus hat etwas Göttliches für mich und hilft mir, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Seine Aussagen zur Gewaltfreiheit sind eindeutig — sein Lebensende aber leider auch.

Im Laufe des Gottesdienstes haben Sie auch Ihren Talar ausgezogen . . .

Schoßwald: Einer der damaligen Sprüche war ja: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren". Damit waren zwar vorrangig Hochschullehrer gemeint, aber Pfarrer tragen ja auch einen Talar. Also habe ich die Teilnehmer gefragt, ob es ihnen recht sei, und dann den Talar ausgezogen, um nicht mehr verkleidet zu sein. Wir standen zu zweit dort vorne und sprachen als Menschen miteinander. Dennoch sehe ich das zwiespältig, denn der Talar hat ja eine wichtige Funktion: Er soll zeigen, dass die Kleidung des Pfarrers oder der Pfarrerin nicht so wichtig ist.

Wie war die Reaktion der Gottesdienstbesucher?

Schoßwald: Die Stimmung war sehr gut. Es waren viele da, die 1968 als Teil der eigenen Biografie erlebt haben. Aber nicht als Reaktionäre, sondern als Menschen, die auch empfanden, dass diese Zeit ihre Werte geprägt hat. Man merkt, wie viel davon heute verschwunden ist: Das Interesse an sozialer Gerechtigkeit ging in den 80ern und 90ern stark zurück. Heute behauptet sogar die AfD, sie sei christlich – noch mehr daneben geht ja gar nicht!

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