Leben und leben lassen wie früher in Roth

28.9.2016, 06:30 Uhr
Leben und leben lassen wie früher in Roth

© Johannes Kann

Mit dem Prädikat „industriereichste Kleinstadt Bayerns“ kann sich Roth heute nicht mehr schmücken. An der dazu nötigen Industrie herrscht am Zusammenfluss von Rezat und Roth zur Rednitz zwar nach wie vor kein Mangel, doch hat sich die ehemalige Kleinstadt im Laufe der Jahrzehnte zu einer respektablen Kreisstadt gemausert.

Aber: Die Zeugen einer einst blühenden Industrie, diverse Villen und Fabrikanlagen, bereichern nach wie vor Roths Stadtbild. Und stoßen auf große Nachfrage, wenn sie, einmal im Jahr, ihre Pforten für an der Stadtgeschichte interessierte Zeitgenossen öffnen.

Stadtführerin Marlene Lobenwein, die am Sonntagnachmittag wieder zur Exkursion zu den noch existierenden Fabrikantenvillen und Fabrikationsräumen eingeladen hatte, konnte die Schar, die ihr folgte, kaum überblicken. Über 150 Menschen aus dem gesamten Landkreisgebiet hatten sich auf einen höchst informativen und von der strahlenden Herbstsonne begünstigten Spaziergang durch die Rother Innenstadt eingelassen.

„Recherchegenie“ Lobenwein, ehemalige langjährige Stadträtin, hatte für ihre Sonderführung zwei Stunden veranschlagt. Dass dreieinhalb Stunden daraus wurden und trotzdem fast alle Mitmarschierer bei der Stange blieben, darf sie durchaus als Kompliment werten.

Der Spannungsbogen, der sich vom Ausgangspunkt des Schlosshofes, wo die Stadtführerin mit dem schlosseigenen Glockenspiel auf sich aufmerksam machte, bis zum ehemaligen Glühstrumpfhersteller Weinberger in der Bahnhofstraße erstreckte, riss jedenfalls nie ab.

Auch weil Episoden zu hören waren, die ohne das Geschichtsbewusstsein von Rother Bürgern längst schon vergessen wären. Unter anderem gab ein längerer Brief einer Arbeiterin, die 45 Jahre lang in der einst international gefragten Christbaumschmuckfabrik von Fritz Stadelmann beschäftigt war, detailliert Auskunft über die Arbeitswelt von damals.

Mit Schaltern in den Konkurs

Oder wer weiß schon, dass bei August Schlemmer (1845-1915) in der Gartenstraße mehr als 300 Arbeiter leonische Waren, Christbaumschmuck und Spielzeug produzierten? Als Sohn Karl die Produktion jedoch auf Porzellanschalter umstellte, führte dies Mitte der 1930er-Jahre zum bislang spektakulärsten Konkurs dieser Zeit in der Rother Wirtschaftsgeschichte.

Leben und leben lassen wie früher in Roth

© Johannes Kann

Mit Kurt Stadelmann sowie Robert und Ilse Graff führten am Sonntag auch Nachkommen zweier vergangener Rother Industrie-Dynastien höchstpersönlich durch Villa beziehungsweise ehemalige Produktionsstätten; weil sie sich der Tradition ihrer Vorfahren verpflichtet fühlen.

Ob die frühere Christbaumschmuckfabrik Stadelmann (gegenüber dem Stadtbauamt) auch im nächsten Jahr wieder Teil eines Rückblickes auf die Industriegeschichte der Stadt Roth sein wird, kann derzeit sogar Marlene Lobenwein nicht abschätzen. Gelände und Gebäude haben nämlich neue Besitzer gefunden. Mit deren Plänen müssen sich über kurz oder lang die Rother Stadtväter beschäftigen.

Die von Kurt Stadelmann am Sonntag spontan an den Maschinen früherer Tage produzierten Christbäumchen werden wohl die letzten Erinnerungsstücke an eine Ära sein, die im 19. Jahrhundert von Wilhelm von Stiebers Tatendrang eingeleitet wurde.

Laut den Leonischen Drahtwerken (heute „Leoni“), denen Stieber den Weg bereitete, wird in absehbarer Zeit auch die letzte Brücke im Zentrum der Stadt zwischen dem Gestern und Heute abgebrochen. Leoni zieht bekanntlich den Main-Donau-Kanal (beziehungsweise das dortige Industriegebiet) dem innerstädtischen Gelände an der Fränkischen Rezat vor.

Marlene Lobenwein bleibt dennoch reichlich Gelegenheit, zu Sonderführungen durch die Industriegeschichte Roths einzuladen, um altes Wissen aufzufrischen.

Wer beispielsweise kann auf Anhieb alle Brauereien aufzählen, die einst in Roth ihr Bier produzierten? Klar, die Stadtbrauerei, dann natürlich der Wagner-Valentin-Bräu und schließlich die Zeltner-Brauerei. Schließlich existieren heute noch steinere Zeugen deren Existenz.

Wer aber hat in jüngerer Zeit schon einmal von der Rothbart-Brauerei gehört? Oder weiß (außer Stadtführerin Marlene Lobenwein), dass im wohl schönsten Gebäude Roths, dem Riffelmacher-Haus, einst Weißbier gebraut wurde?!

Die frühere Brauerdichte zeugt aber auch davon, dass in der einst industriereichsten Kleinstadt Bayerns nicht nur die Arbeit, sondern auch das Motto „Leben und leben lassen“ etwas galt.

Marlene Lobenwein wird diese Devise wohl auch an den zahlreichen Bierkellern festmachen, in denen einst die Geselligkeit und das Miteinander ganz ohne technische Hilfsmittel gepflegt wurde. Einfach so.

1 Kommentar