Lesung erinnert an Schicksal von Nürnberger Juden

27.1.2018, 06:00 Uhr
Daniel Kaloczi, Elisa Eitel und Vincent E. Noel hielten ein poetisches Referat zum Werk "Blutvergiftung", das das Nürnberger Stadtarchiv herausgegeben hat.

© Viola Bernlocher Daniel Kaloczi, Elisa Eitel und Vincent E. Noel hielten ein poetisches Referat zum Werk "Blutvergiftung", das das Nürnberger Stadtarchiv herausgegeben hat.

Mit Marschmusik und dem Bild von Fritz Fink, dem Nürnberger Stadtschulrat in der NS-Zeit, werden die Zuhörer begrüßt. Elisa Eitel, Daniel Kaloczi und Vincent E. Noel stehen bereits auf der Bühne und warten. Als die Musik verstummt, legt Noel in bester Nazi-Manier los, erzählt, dass die "Judenfrage mit den Nürnberger Gesetzen gelöst" sei.

Für die Nürnberger Juden war das aber erst der Anfang von Schikane, Ausgrenzung, Beschimpfungen und schließlich der Deportation. In dem Buch "Blutvergiftung. Rassistische NS-Propaganda und ihre Konsequenzen für jüdische Kinder und Jugendliche in Nürnberg" hat das Nürnberger Stadtarchiv diese schreckliche Zeit beleuchtet. Daniel Kaloczi liest die Stücke in denen Kolb erzählt, Elisa Eitel übernimmt die Zitate oder lässt die weiblichen Rollen sprechen.

Vor allem Alltagsbegebenheiten kommen zur Sprache und zeigen besonders beklemmend, wo Ausgrenzung beginnt und wohin sie führt.

Streichhölzer in den Klingelknopf gesteckt

So war es bei den Schülern der Knauer-Schule, die gegenüber des Wohnhauses der Familie Kolb lag, besonders beliebt, Zahnstocher oder Streichhölzchen so zwischen Klingel-Knopf und Rand zu stecken, dass es im ganzen Haus bei den jüdischen Bewohnern ununterbrochen klingelte. Die meisten Bewohner ließen es vor Angst klingeln und warteten, bis der wütende Schulkinder-Mob wieder abgezogen war und pflückten dann erst wieder die Streichhölzer aus den Knöpfen, aber Herbert Kolbs Schwester Erna, damals rund zwölf Jahre alt, hatte genügend Mumm, zum grölenden Mob zu gehen und vor ihren Augen die Streichhölzer herauszuziehen. Vor Staunen über so viel Mut verprügelten die anderen Kinder sie nicht, sondern ließen diesen bösen Streich in Zukunft bleiben.

Doch das war nicht die einzige Schikane, die die Nürnberger Juden zu erdulden hatten. Schon früh, gleich nachdem Hitler 1933 Reichskanzler wurde, zogen SA, SS und Stahlhelm auf den Hauptmarkt, um dort eine Kundgebung abzuhalten. Am 1. April wurden alle jüdischen Geschäfte Nürnbergs boykottiert und Wachen davor postiert, die die Bürger, die es wagten dennoch dort einzukaufen, fotografierten und beschimpften.

In 1930er-Jahre zurückversetzt

So werden in dem poetischen Referat Begebenheiten aus den Erzählungen des Zeitzeugen Herbert Kolb mit historischen Ereignissen vermischt. Gerade dadurch entsteht die beklemmende Aura dieser Lesung. Als dann noch laut schallende Sieg Heil-Rufe aus vielen Kehlen eingespielt werden, wie sie wohl auch auf dem Hauptmarkt zu hören waren, fühlt man sich in die 1930er Jahre zurückversetzt.

Vincent E. Noel liest die Texte mit der Stimme, die zu der selbstgerechten Nazi-Empörung passt, forsch und von der eigenen Überlegenheit überzeugt, so wie sie auch Schulrat Fritz Fink gesprochen haben könnte. Die Schüler im Publikum lauschen, mit dem Sitznachbarn tuschelt keiner.

Weil er als Jude anderswo keine Ausbildung findet, muss Herbert Kolb im Herrenbekleidungsgeschäft seines Onkels in die Lehre gehen. Weil er der Neffe des Chefs ist, bleibt er vor Anfeindungen verschont, aber die judenfeindliche Atmosphäre ist spürbar. Wie es den jüdischen Schulkindern erging, berichtete Zeitzeugin Susan Sinclair. Die jüdischen Schüler dürfen bald nur noch in der letzten Reihe sitzen. Auch die Deutsch-Aufsätze der guten Schülerin werden nicht mehr vorgelesen. Die Begründung: Nur deutsche Schüler können deutsche Aufsätze schreiben. Immer wieder wird sie von anderen Kindern als "Judenstinker" beschimpft.

Für Herbert Kolb werden die Schikanen immer schlimmer. Der Vater, der Geschäftsführer der Israelitischen Kultusgemeinde ist, wird schließlich verhaftet, am 17. Juni 1943 soll die Familie deportiert werden. Man glaubt noch immer, dass man in den Osten umgesiedelt werde. Für die Familie geht es nach Theresienstadt. Das Leben im Lager ist hart, aber Herbert Kolb und seine Familie überleben. Als die Rote Armee das Lager befreit, können sie ihr Glück nicht fassen.

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